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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Bengel, Du willst mich wohl bestechen?“

„Jawoll,“ sagte Franz ehrlich, da er glaubte, daß das ihm nur halb verständliche Wort ungefähr zutreffen könne.

Herr Voß lachte kurz auf. „Deern, verkriech’ Dich doch nicht; meinst Du, ich will Dich spießen?“ wendete er sich dann an Meta. „Um Deinetwillen hat Dein Vater woll so verrückt gesegelt? War ’n schöner Unsinn, Du siehst ja jetzt wieder aus wie das reine Leben!“

Meta hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, nicht wie das reine Leben auszusehen.

Und wieder Franz zugekehrt, fuhr der Kaufmann, auf das Schiff deutend, fort: „Setz’ das Dings ’mal unter die Lampe, daß man es sehen kann!“

Franz gehorchte nur widerstrebend; eine Hand behielt er daran. Sein Geschäft schien ihm auf recht unsicheren Füßen zu stehen.

Herr Voß zeigte ein höchst überraschtes Gesicht.

„Donnerwetter noch ’n Mal, Jung’, das ist so die ‚Athapaska‘! Du denkst woll, wenn der Vater die große verloren hat, nehm’ ich die kleine vom Sohn als Ersatz dafür? Wo hast Du das Modell hergekriegt?“

Der Künstlerstolz ließ den Busen des Jungen schwellen. „Das hab’ ich selbst gemacht!“

„Du? Na, na!“

„Ja, bloß bei’n Rumpf hat Schiffszimmermann Thomsen mir bei geholfen.“

„Das wär’! Wenn Du das nicht sagtest, würd’ ich es nicht glauben.“

Eine Pause entstand, worauf Herr Voß mit weicherer Stimme fortfuhr. „Na, geht man wieder nach Haus, Kinder! Dein Schiff kannst Du hier lassen, Jung’. – Was meinst Du, was ich Dir bezahlen soll?“

Da fuhr aber der sonst so verschüchterte Franz mit erregter Stimme auf. „Nein, Geld will ich nich, Herr Voß! Wenn Sie Vater nich behalten wollen, denn will ich auch mein Schiff wieder!“

Herr James Voß riß die Augen auf.

„Hallo, hallo, Jung’! Denkst Du, Geld ist nichts in der Welt? Da irrst Du Dich gewaltig! Aber – ich muß wenigstens die Sache noch überlegen.“

Doch Franz schüttelte den Kopf. „Ich will es doch man lieber so lang mitnehmen,“ meinte er und hob den kostbaren Gegenstand wieder auf den Arm, ohne daß Herr Voß ihn daran hinderte.

„Komm, Meta!“

Die Kinder schritten zur Thür, brachen aber gleichzeitig in heftiges Schluchzen aus.

„Halt’ noch’n Mal!“

Die Faust auf die Schreibtischkante gestützt, stand der Reeder sinnend da. Er besaß selbst keine Kinder und hatte sie bis zu diesem Augenblicke nie vermißt. Aber jetzt ging ihm mit einem Male die Erkentnis auf, was für ein Schatz sie seien. Zum erstenmal empfand er auch, welcher Jammer es für ein Kind sein müsse, den Vater leiden zu sehen.

Er räusperte sich. „Hm! Stell’ das Schiff nur wieder hin, Jung’! Ich will einen Brief an Deinen Vater schreiben, daß er in Gottes Namen seine Stelle behalten soll.“

Die Kinder sahen sich still mit leuchtenden Blicken an, während die Feder des Kaufmanns über das Papier flog.

„So! Nun macht, daß Ihr wegkommt, ich muß auch fort! Vergnügtes Fest!“ – –

Wie die Beiden nach Haus kamen? Natürlich wie unsinnig springend und tanzend.

Auf der Treppe, die unmittelbar von der Straße nach oben führte, verlor Franz aber urplötzlich allen Mut. „Du, Meta, wenn ich ihm den Brief geb’, denn is da am Ende doch was nich recht an.“

Zögernd nahm Meta den hingehaltenen Brief. Da streckte sich auch schon Tante Schanens spitze Nase über das Treppengeländer vor.

„Meine Güte, wo bleibt Ihr denn bloß wieder heute? Flink in die Schlafstube, Meta! Und Du, Franz, machst, daß Du nach oben kommst, bis Du gerufen wirst!“

Franz schlich in seine kalte dunkle Kammer; ihm war es höchst zweifelhaft geworden, ob er dem Vater zu Dank gehandelt habe oder nicht. – Die Regenwolken hatten sich verzogen, das Mondlicht funkelte auf Störtebekers Krone. Und mit einemmal fingen die Glocken an zu läuten, nah und fern, von St. Katharinen und St. Petri, von St. Jakobi, St. Nikolai und St. Michaeli. Dem Jungen ward ganz feierlich zu Mute. Er faltete die Hände und betete: „Lieber Gott, laß mich doch bloß besser werden, und wenn Du kannst, dann mach’, daß Vater mich lieb hat!“ Und nun war es ihm, als sähe er den heiligen Stern und darunter die Krippe mit dem Christkind, von dem ein Glanz ausging, tausendmal heller als von der goldenen Krone.

„Franz, Franz, schnell!“ Meta rief’s, die Treppe so eilig heraufpolternd, daß sie immer die Stufen verfehlte.

„Ich komme ja schon! Was is los?“

„Das sag’ ich nicht!“ Und sie zog den Bruder mit hinunter.

Die Wohnstubenthür öffnete sich, und Franz stand ganz verdutzt da. Nicht, daß es in der That so großartig gewesen wäre, was sich seinen Blicken bot, nein, das nicht! Nur das Unerwartete, das Hinüberspinnen seiner Phantasie von der leuchtenden Wiege des Christkindes zu dem im Lichterschmuck strahlenden kleinen Tannenbaum machte es. Negenmörder und seine Schwester, die auch im Zimmer waren, hatten den Kindern das Bäumchen beschert.

Aber es war doch nicht der Baum, was Franz am allermeisten in Erstaunen setzte. Wie gebannt hing sein Blick an seinem Vater, der ihn mit ausgebreiteten Armen erwartete – ihn, den ungeliebten Franz! Er vermochte es nicht zu fassen.

„Franz, Franz! Mien lewe, lewe Jung’!“

Da stieß Franz einen ganz sonderbaren Glücksschrei aus und warf sich zum erstenmal im Leben an die Brust seines Vaters, wo er in ein heftiges Schluchzen ausbrach. Der Vater bettete den Erregten selbst auf das Sofa, und allmählich erholte sich Franz. Seine Blicke wanderten hin und her zwischen den Lichtern am Baum und dem Vater und Meta, die seine Hände streichelten. Ein von der Flamme erreichtes Zweiglein flammte knisternd auf und verbreitete einen köstlichen Duft. „Vater, Vater!“ flüsterte der Knabe immer wieder.

Die lang verschmachtete Kinderseele schien sich an dem süßen Klange dieses Wortes gar nicht ersättigen zu können.

Das war Franz Bandholts Weihnachten!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_835.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)