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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

still stände. Darüber hatte sich die junge Mutter so entsetzt, daß sie nicht mehr aufkam.

Schläge hatte Franz damals nicht erhalten – er mußte bloß immer still in einem Winkel sitzen, wo sich niemand um ihn kümmerte. Nur die Katze war zu ihm gekrochen. Da aber hatte der Vater die Katze gepackt und gegen die Wand geworfen, daß sie mit gebrochenem Genick liegen blieb; und Franz hatte einen Fußtritt bekommen, der ihm beinahe dasselbe Schicksal bereitet hätte. Dann war das ganze Haus schwarz gewesen, und Metas Mutter war in einem gelben Sarg mit weißen Spitzen aus dem Haus getragen worden, und sein Vater hatte sich über den Sarg geworfen und laut geweint.

Und das war alles, alles seine Schuld!

Ein grauer Wasserdunst, in dem die Laternen der Brücke rötlich und trübselig glimmten, lastete über dem Fleet, eingeklemmt zwischen den schwarzen, hölzernen Speichern und den auf gesenkten Pfählen ruhenden Rückseiten der alten Häuser. Franz saß noch immer auf seinen Händen; er starrte zu dem kupfergrünen Dache von St. Katharinen empor, wo er noch eben den die Turmspitze umschließenden Kronreif erkennen konnte. Der war aus Gold geschmiedet, das man dem großen Seeräuber Störtebeker abgenommen hatte; Franz wußte das genau. Wenn er doch auch Seeräuber werden und so viel Gold sammeln könnte! Er würde es dann dem Vater schenken, der ja immer in Geldsorgen lebte. O, vielleicht würde der Vater ihn dann auch lieb haben! Meta sollte zu ihm aufs Räuberschiff und ihm ’was kochen und es überhaupt sehr gut haben. Und Tante Schane? Ja, ein Jahr mindestens mußte sie angekettet bei den Geistern, Schlangen und Molchen im Keller seines Raubschlosses liegen. Wenn sie ihn dann um Verzeihung bitten würde, wollte er sie, mit einer Hand voll Gold zu ihrem Lebensunterhalt, laufen lassen. Er wollte auch kein gottloser Räuber sein, nur die reichen .….

Tante Schanes Aufstehen, bei dem sie immer länger und gespenstischer ward, unterbrach seine schönen Träume. Tante Schane erinnerte sich nämlich mit einem entsetzten: „Ach Du mein Großmächtiger – wat bün ick wedder för’n Blau-Ackermann!“[1], daß sie vergessen hatte, Petroleum in die Lampe zu gießen. Eilfertig schlürfte sie in die Küche; da sie dabei ihr heruntergefallenes Strickzeug hinter sich herschleifte, so ließ sich der Vergleich mit einer zierlichen Bachstelze kaum für sie aufrecht halten – sie sah eher aus, als ob sie unseligerweise bereits im Burgverließe mit der Kette am Bein umherirre.

Knapp befand sie sich draußen, so schoß Franz an das Bett. Die Geschwister umschlangen sich und legten ihre Waagen aneinander.

„Meta, weißt Du, was ich Vater zu Weihnachten machen will?“

„Nee!“ sagte Meta.

„Die ‚Athapaska‘! Der Rumpf ist schon fertig!“ rief Franz, und man merkte der Stimme ordentlich an, wie seine Augen strahlen mußten.

„Jungedi, kannst Du das?“

„Können?“ meinte Franz verächtlich. „Es kostet man ’ne Masse Geld. Zwei Mark hab’ ich mir all vom Sommer her gespart.“

„Dann hast Du woll all die Zeit ohne Frühstück in der Schule gesessen?“ rief Meta bestürzt.

„Warum nich? Verhungert bin ich da auch nich bei.“

„O, wenn Tante Schane das wüßte! Die haute Dir halbtot!“

Franz zuckte die Achseln. Dem Schwesterchen aber kam das kühne Unterfangen entschieden nicht ganz geheuer vor. Wie sie noch so hin und herredeten, ging draußen hastig die Treppenthür. Die Kinder hörten ein Schluchzen und eine fliegende jammernde Stimme. Das konnte nur Wiesche Negenmörder sein, die rothaarige Schwester des rothaarigen Steuermanns – die hatte so eine wehleidige Stimme. Aber was war das? Den Kindern stockte das Blut. Abgerissene Worte drangen herein: „Athapaska – Depesche von Neuwerk – alle, alle –!“

Und dann kreischte Tante Schane laut auf, und ebenfalls aufschreiend war Meta mit einem Satz aus den Kissen gesprungen und barfuß hinaus, während Franz, vor Schreck unfähig, sich zu regen, an dem Bettrand auf den Knien liegen blieb.

*  *  *

Aus dem Reste des schmelzenden Talglichts ragte der Docht seitwärts lang heraus und beleuchtete mit seiner rötlich schmauchenden Flamme die steifgefrorenen Finger des kleinen Franz, sein zierlich getakeltes Schiffchen, die Dachsparren, das alte Bett mit der durchlöcherten karrierten Pferdedecke, während es in dem mit Eiskrystallen bedeckten schrägen Dachfensterchen sich glitzernd spiegelte. Franz schauderte vor Kälte.

Da klopfte es leise dreimal an die Thür. Der Knabe schob von seinem Stuhl aus den Riegel zurück. Meta, mit wirrem Haar, im kurzen Flanellröckchen, ein Tuch um die Schultern geschlagen, schlüpfte herein.

„Gleich geht Dein Licht aus! Bist Du nicht bang?“ wisperte sie, furchtsam in die dunkle Kammerecke starrend.

„Nee!“ flüsterte Franz stolz. „Meinst Du, daß Störtebeker bang gewesen ist?“

„Du bin auch noch lang kein Störtebeker!“

„Kommt noch, mein Deern!“

„Nee, so’n alten gräsigen Seeräuber, den sie sein’ Kopf abhauen, sollst Du nich werden!“

Franz spitzte überlegen die Lippen. „Guck ’mal!“

Er blies zur Erwärmung in seine zusammengelegten Hände und winkte mit den Augen nach seinem Schiffe hin.

„O du mein, is das fein geworden! Da kann Vater sich ’was über freuen! Aber weißt Du, rechten Weihnachten wird das diesmal doch nich.“

„Kriegen wir kein’ Baum? Bitt’ Vater doch noch ’mal!“

„Ach, das hilft ja nich! Er spricht ja nu mit mir auch nich mehr! Und heut’“ – sie blickte scheu nach der Thür und näherte ihren Mund dem Ohre des Bruders, „heut’ soll er vor Gericht!“


  1. Eine Bachstelze.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_831.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)