Seite:Die Gartenlaube (1894) 830.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Nee, Kaptein, versöcht[1] mut warden! In ’n Namen vun de Lüd segg ick dat.“

„In’n Namen von de Lüd hebben Se dat Mul to holen! Verstahn Se mi?“ brüllte Bandholt.

„Denn maken Se mit Gott aff, wat Se nich laten künnen, Kaptein; ick heff mien Plicht dahn.“

Ein harter Kampf tobte in der Brust des Kapitäns; er sah ein, daß sein Eigensinn diese verzweifelte Lage verschuldet hatte. Er ließ außer Negenmörder Bootsmann Knüvnagel, Segelmacher Iversen und Zimmermann Jeve aufs Achterdeck kommen. Diese schienen schon gelauert zu haben.

„Ick tru mi noch ümmer to, de ‚Athapaska‘ heel[2] in de Elv herinner to bringen, Lüd! Ji wüllt mi awerst twingen, ünner Helgoland –“

„Twingen nich, Kaptein!“ protestierte Knüvnagel.

„Na, dat is en Dohn![3] Ji wüllt gegen mi utseggen[4], wenn dat in de Elv scheef geiht?“

Die Männer schwiegen.

„Good! Wi gaht ünner Helgoland, wenn – de Düvel uns nich vörher bie’n Kanthaken[5] nümmt! – All hands[6] up Deck!“

Dann ging der Tanz los. Als die „Athapaska“ an den Wind kam, legte sie der Schneesturm platt ins Wasser, und als sie sich endlich wieder aufgerichtet hatte, waren Boote, Schanzkleidung und Deckhütte fort. Dennoch war das Manöver ein Meisterstück gewesen, wie es nur der alte Bandholt fertig brachte. Er wies Dank und Lob seiner Untergebenen rauh zurück und knurrte: „Dat dicke Enn kümmt noch.“

Und leider sollte er recht behalten. Nach fünf Minuten brach der Klüverbaum, und damit geriet der Fockmast ins Wanken. Es ward unbedingt nötig, wieder abzuhalten.

„Stüerbord!“ brüllte Bandholt den Leuten am Ruder zu.

Das Schiff hatte aber dem Drucke noch nicht gehorcht, als gerade in diesem Augenblicke die Schneebö tückisch mit orkanartiger Wucht einsetzte. Und da geschah das Schrecklichste: der Fockmast neigte sich und stürzte, den Großmast mit sich reißend. So furchtbar heulte der Orkan, daß man das Krachen kaum aus dem Tosen heraushörte. Sturzseen, Finsternis und Schnee ließen die Hand nicht vor den Augen erkennen. Es war ein Augenblick, in dem die Hölle loszubrechen schien und der gewöhnlich geartete Mensch sich dem entfesselten Elemente gebrochen und verzweifelnd zum Opfer gegeben hätte. Aber der alte Bandholt stand mitten in der Zerstörung wie ein Löwe. Jetzt war er ruhig.

„Klart dat Wrack!“

Die Leute ermannten sich. Auf Leben und Tod wurde mit Messer und Beilen gearbeitet, das Deck frei zu machen; Bandholt immer allen voran, oft bis über den Kopf in See und Schaum. Nach anderthalb Stunden war das Werk gelungen. Am Stumpfe des Fockmastes hatte man mit Hilfe einer Bramraae ein Notsegel angebracht. Vor dem Sturme eilte das Wrack in die jetzt einzig mögliche Richtung – wieder auf die Elbmündung zu.

Bandholt wußte, daß der Großmast, als er noch an den Tauen gehangen, unter der Wasserlinie ein Loch in den Rumpf gestoßen hatte, und daß es nur eine schwache Möglichkeit für die Rettung gäbe: das schnell sinkende Schiff so hoch hinauf als möglich auf den Strand zu setzen.

Erschöpft, schier teilnahmlos arbeiteten die Leute im eisigen Wasser an den Pumpen. Wenn es nur Tag werden wollte! In solcher Nacht dünkt dem Menschen das Licht der einzige Hoffnungsstrahl zu sein. Ja, ein Licht kam wohl, aber nicht das des Tages, sondern das eines Küstenfeuers.

„Neuwerk!“ flüsterte Negenmörder gepreßt und biß die Zähne aufeinander. Bandholt ließ die Rettungsringe verteilen.

Da zitterte ein heftiger Schlag durchs Schiff, es hatte auf Grund gestoßen. Und wieder wurde es gehoben, stieß abermals und trieb von neuem, bis es endlich mit einem heftigen Ruck in der Brandung festlag. Das Feuer von Neuwerk blinkte jetzt schwach auf der anderen Seite. Man hatte nichts, um sich bemerkbar zu machen; kein Mensch konnte sich auf Deck halten. Unter dicht verschotteten Luken hockten sie alle, so trocken es ging, stumm aneinander geduckt im finsteren Raum, ihr letztes Vertrauen auf die Festigkeit des Rumpfes setzend.

Der Schneesturm fegte nach wie vor die brausenden Wogen heran; wie geifernde Tiger überstürzten sie sich und schmetterten in wilder Brandung unaufhörlich hinweg über das verlorene Wrack. Und plötzlich ging ein Krachen durch das ganze Gebälk. Instinktmäßig griff jeder nach seinem Korkring, und dann tasteten die Hände der Männer im Dunkeln nach einander und tauschten einen stummen Abschiedsgruß.


„Franz, Schlüngel, was hast Du Meta wieder aufzuwecken! Mach, daß Du von ihr abkommst!“ zankte Tante Schane.

Franz schlich schweigend aus der finstern Ecke, wo das Bett der kleinen Meta stand, und setzte sich auf den Holzstuhl ans Fenster – oder vielmehr auf seine Hände, eine ungeschickte Gewohnheit, die daher rührte, daß er auf diese Weise das Brennen von Tante Schanens Klapsen zu mildern oder auch ihnen ganz zu entgehen hoffte.

Eine feine Stimme aus dem Dunkel klagte: „Laß ihm doch, Tante! Morgen steh’ ich doch all wieder auf!“

Tante Schane saß strickend am anderen Fenster der dämmerigen Stube. Ihr langer Oberkörper wiegte dabei taktmäßig hin und her, als wäre sie begeistert durch eine nur von ihr gehörte Tanzmusik, was ihr in der ungewissen Beleuchtung etwas sehr Gespenstisches verlieh. Sie zog eine Nadel aus dem ellenlangen Wollstrumpf, stocherte sich damit im Haar herum, steckte sie dann wieder in die Maschen und ließ die Nadeln leise und emsig weiter klirren, bis sie endlich erwiderte: „Das is eins! Wenn Vater kommt, sollst Du wieder gut zu Wege sein! Du meine Güte, wo wär’ mir das woll gegangen, wenn ich Dir nich’ durchgekriecht hätte?“

Dann wendete sie das dünn behaarte, glatt gescheitelte Haupt zum anderen Fenster. „Junge, Junge, das wird wieder ’n schönen Weihnachten für Dich geben! So ’n richtigen Nagel zu Dein Vater sein Sarg bist Du doch! Wozu Dich der liebe Gott in die Welt eingesetzt hat, das soll ’mal einer raten!“

Franz war nachgerade vollständig überzeugt davon, daß er ein Nagel zu seines Vaters Sarg sei und daß niemand es erraten könne, er selbst mit inbegriffen, warum er auf die Welt gekommen wäre. Die Leute hatten es ihm längst erzählt, daß er seiner Mutter – jetzt vor zwölf Jahren – bei seiner Geburt das Leben gekostet hätte; und wie er, mit vier Jahren, dann seine Stiefmutter, Metas rechte Mutter, ins Grab gebracht hatte, stand ihm noch deutlich vor Augen. Die Stiefmutter war schwer krank gewesen; da hatte er in seinem Unverstand die Katze ins Schlafzimmer gelassen, damit die einjährige kleine Schwester mit ihr spielen sollte. Die Katze aber hatte sich nachts oben auf das Kind gelegt; und als nun die Mutter, da es so merkwürdig ruhig war, im Dunkel nach dem Kinde griff, war ihr das Tier ins Gesicht gesprungen. Meta aber lag ohne Atem da und es schien, als ob das kleine Herz bereits


  1. versucht.
  2. heil.
  3. ein Thun = einerlei.
  4. Vor Gericht aussagen.
  5. Beim Schlafittchen.
  6. Alle Hände = alle Mann.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_830.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)