Seite:Die Gartenlaube (1894) 828.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Sag' Ja!“ flüsterte er und küßte mich. „Mußt Du erst überlegen, Anneliese?“

Da fuhr ich empor aus seinen Armen; die Base war mit Licht eingetreten. Sie sah Robert noch nicht, sie hatte die Augen auf die flackernde Kerze gerichtet. „Annelieseken,“ sagte sie, und die Stimme quoll ihr in der Kehle, „Mama geht’s sehr schlecht.“ Und aus diesen paar Worten scholl mir die furchtbare Kunde mit furchtbarer Gewißheit entgegen – keine Hoffnung!

Ich stürzte hinaus, ich vergaß alles. Droben wehrte mir der Arzt den Eingang; in Mamas kleinem Boudoir neben dem Sterbezimmer kauerte ich mich in die Kissen des Sofas und horchte auf die schwachen Laute, die von dort herüberdrangen, auf das Gehen und Flüstern. Eine tödliche Müdigkeit überfiel mich von Zeit zu Zeit, immer unterbrochen von der folternden Erinnerung an die traurige Gegenwart. Einmal glaubte ich Wollmeyers und des Arztes Stimme zu vernehmen, vermochte aber nicht, mich ganz wach zu erhalten. Dann fuhr ich jäh aus tiefem Schlafe; es war, als hätte mich liebkosend eine Hand gestreift; ein kalter Schauer war an mir vorübergeweht! Ich stand im nächsten Augenblick auf den Füßen, lief zur Thür und trat über die Schwelle.

Weihnachtstuten in der Mark.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.

Totenstill war es hier innen; die Kerzen auf den Leuchtern flackerten im Winde, der durch das offene Fenster kam. Eine schreckliche Bangigkeit überfiel mich, ich wagte nicht, vorwärts zu gehen. Vor dem Lager Mamas kniete ein Mann, das Gesicht in der Decke verborgen, die Hände verzweifelt in die Haare gekrallt; und Mama ganz still, der Kopf eigentümlich zurückgebogen, halb offen die Augen – ach, und der starre, der trostlose Ausdruck in den Zügen! Der Mann erhob sich und ging an mir vorüber; ich glaube, er sah mich nicht. Langsam schlich ich näher zu dem Bett.

„Mama!“ sagte ich leise, „Mama, schläfst Du?“

Ja, sie schlief. –

Ohne eine erleichternde Thräne, ohne die Hände gefaltet zu haben, wankte ich hinunter wie geistesabwesend. Die Leute standen im Flur und sahen mich mitleidig an; Olga Sellmann kam mit verstörtem Gesicht zu mir herüber, ich drehte ihr den Rücken zu. Robert Nordmann lehnte am Fenster in meinem Wohnstübchen; er wandte sich um, ein Zucken ging über sein Gesicht und stumm breitete er die Arme aus. Es sollte wohl heißen: komm, ich will dir alles sein, Vater, Mutter, Heimat – alles! „Mama ist tot!“ sagte ich und ging an ihm vorüber. Er ließ die Arme sinken und sah mir traurig nach.

Ich nahm ein Tuch, hüllte mich fröstelnd hinein und setzte mich in den Stuhl am Ofen. In mir war alles starr und tot. So saßen wir in dem kalten Zimmer, in der Winternacht, er und ich. „Mama ist tot, ich danke Ihnen für Ihr Mitleid – nun haben Sie keine Rücksicht mehr zu nehmen; leben Sie wohl!“ hätte ich ihm sagen müssen, aber kein Ton wollte aus meiner Kehle.

Die Base kam endlich, mit blassem eingefallenen Gesicht. Als sie mich sah, wandte sie ach ab und wischte sich die Augen. „Gott hat Ihnen viel genommen, Anneliese!“ Dann winkte sie dem Neffen, ihr zu folgen, und leise traten beide in die angrenzende Stube. Ich hörte sie flüstern, die Base schluchzte dazwischen. Und plötzlich raffte ich mich auf und verließ das Zimmer; ich wollte

fort, fort zur Komtesse, fort aus dem Hause des entsetzlichen Menschen! Mechanisch zog ich das Tuch fester und trat hinaus in den dämmerigen kalten Flur; die Uhr schlug eben Sechs.

Und da stand die Komtesse, und als sie mich sah, nahm sie mich in die weiten Falten ihres Mantels. „Mein armes Kind,“ sagte sie, „nun gehörst Du zu mir. Komm, wir wollen noch einmal zu der Len’, dann gehen wir in mein Haus!“

Auf der Treppe begegnete uns Olga Sellmann; sie war in Reisetoilette. Hinter ihr schritt neben Brankwitz mein Stiefvater, fast unkenntlich geworden in dieser einen Nacht; gebückt, scheu, das Haar so grau, wie es mir noch nie vorgekommen war. Er machte einen schwachen Versuch zu der alten Höflichkeit. Die Komtesse hielt aber den Kopf steif in den Nacken gebogen und bemerkte ihn nicht. Ein heftiger Schreck malte sich in seinem Gesicht; er wagte nicht, uns zu folgen.

Ich küßte noch einmal Mamas Hand. Die Komtesse konnte weinen, heftig, wie verzweifelt; ich fand keine Thräne. Dann gingen wir die Treppe wieder hinunter, als eben der Wagen mit Olga Sellmanns aufgetürmten Koffern zum Thore hinausfuhr. Mein Stiefvater begegnete uns abermals, und abermals sah die Komtesse nach der andern Seite; er stand mit zur Faust geballten Händen da und blickte uns nach; aber er machte keinen Versuch, mich zurückzuhalten.

„So,“ sagte die Komtesse, als sie mich über die Schwelle ihres Hauses mehr hob als führte, „das ist jetzt Deine Heimat, so lange ich lebe – lange wird’s freilich nicht mehr sein. Aber vorderhand ist’s doch ein Unterschlupf für Dich, mein armes Kücken.“

Das Erste, was ich that, war, daß ich mich an den altmodischen Schreibtisch setzte unb an Robert schrieb: „Mama ist tot, und auf mich dürfen Sie nun keine Rücksicht nehmen. Ich danke Ihnen für Ihr Mitleid, für Ihre aufopfernde edelmütige Gesinnung, es hat mir alles so wohl gethan. Tausendfaches reiches Glück wünscht Ihnen Anneliese.“ 
(Fortsetzung folgt.)


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_828.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2022)