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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Jugendzeitschriften.

Vom Weihnachtstisch 1894.

Wer in die vierziger Jahre zurückdenken kann, in die Zeit, wo der „Neue deutsche Jugendfreund“ von Franz Hoffmann als vereinzelte periodische Erscheinung unter der noch recht sparsam gewachsenen Jugendlitteratur stand, der muß wohl erstaunen über die Fülle der heutigen Zeitschriften für unsere Schuljugend. Die Lobredner der „guten alten Zeit“, denen diese in allen Dingen mustergültig ist, werden den Kopf schütteln und es sehr unnötig finden, daß Kinder auf Zeitschriften abonnieren, um sich daran nervös zu lesen, wie es nach ihnen die Großen an den ihrigen thun. Ihnen wäre zu entgegnen, daß niemand seinen Kindern mehr als eine zu halten braucht, und daß es Jedem frei steht, dieselbe, die ja immer in größeren Zeitabschnitten erscheint, das Jahr durch selbst zu sammeln und erst als Band auf den Weihnachtstisch zu legen. Dann aber wird dieser Band eben durch seinen, aus Unterhaltung und Belehrung gemischten Inhalt alles erfüllen, was von einem guten Jugendbuch zu verlangen ist: neben der Befriedigung von Phantasie und Gemüt durch Erzählungen und Gedichte wird er den Kindern den Blick auf die umgebende Welt der Wirklichkeit öffnen und ihr Interesse für die wichtigsten Natur- und Kulturerscheinungen wecken, welchen sich auch der werdende Mensch nicht verschließen darf und soll. Der jugendliche Geist faßt begierig alles Dargebotene, wenn ihm also im Gewand einer hübschen Zeitschrift die rechte geistige Nahrung gereicht wird, so kann ihm das sicher nur ersprießlich sein. Freilich muß darin sorgsam ein zerstreuendes Vielerlei ausgeschlossen und alles ferngehalten werden, was Frühreife und ungesunden Ehrgeiz zeitigt, die Herausgeber müssen stets ihres verantwortungsvollen Erzieheramtes eingedenk bleiben und es mit größter Treue verwalten.

In welchem Maße nun die ersten Verlagsfirmen bestrebt sind, durch ihre Veröffentlichungen auf dem hier bezeichneten Wege zu handeln, das zeigt ein genaues Durchgehen des auch für diese Weihnachten vorliegenden reichhaltigen Vorrats von schönen Sammelbänden, unter denen die wirklichen Zeitschriften von den Jahrbüchern zu unterscheiden sind.

Ganz in der Weise unserer volkstümlichen Familienblätter, alle acht Tage, erscheinen die beiden illustrierten Zeitschriften „Der gute Kamerad“, und „Das Kränzchen“, welche der Verlag der Union (Stuttgart), die erste für Knaben, die zweite für Mädchen, herausgiebt. Alljährlich vor Weihnachten wird von jeder der vollständige Jahrgang als Band herausgegeben und die uns vorliegenden neuen Bände bestätigen, wie berechtigt die Beliebtheit ist, welche sich diese Kinderzeitschriften erworben haben.

Die Erzählung steht in ihnen an erster Stelle. „Der Oelprinz“ von Karl May im „Guten Kameraden“ spielt in Kalifornien; so recht eine Knabenlektüre voll Eigenart, spannender Handlung und ganz köstlichem Humor. Er zieht sich durch den ganzen Jahrgang, wird aber begleitet von einer reichen Fülle von geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Belehrungen in anziehender Form mit reichem Schmuck von Illustrationen. Auf Anregungen zur Selbstbeschäftigung, zum Sammeln, Experimentieren, zu Handfertigkeitsarbeiten, legt die Redaktion sichtlich besonderen Wert. Man muß dem Herausgeber zugestehen, daß er das oben angedeutete Programm einer guten Jugendzeitschrift mit gewissenhafter Sorgfalt eingehalten hat, daß es ihm aber zugleich gelungen ist, sie ebenso unterhaltend wie lehrreich und erzieherisch zu gestalten, so daß er des freudigen Beifalls der Eltern wie der jungen Leser gewiß sein darf.

Im „Kränzchen“ tritt neben den ansprechenden Erzählungen von Luise Glaß u. a. eine große Zahl von Gedichten auf, es giebt „Deklamationsstunden“, Erörterungen über die kleinen Schwierigkeiten, die sich der Mensch durch kleine Unarten selbst schafft, über Gesundheitspflege und hausmütterliche Kenntnisse. Die Rubrik „Geschichte, Länder- und Völkerkunde, Sitten, Gebräuche und Moden“ teilt eine Menge von Wissenswertem mit, aber noch größer ist die der Anleitungen zu hübschen und nützlichen Arbeiten, kleinen Kochereien und zu lustigen Spielen. Ueberhaupt gelangt in beiden Zeitschriften auch der Humor zu seinem Recht; so in dem Briefkasten der Wochennummern, wo im „Guten Kameraden“ der Setzerlehrling „Peter Schneuzchen“ und im „Kränzchen“ die „Kränzchentante“ ihre Auskünfte in möglichst heiterer Form erteilen. Dem starken Prachtband eingeheftet ist ein großes Reisespiel, eine Schweizerreise vorstellend, als Gegenstück zu der im „Guten Kameraden“ befindlichen nach Chicago.

Bescheidener in der Ausstattung, aber doch reichhaltig und den Interessen kleiner Leser angepaßt, ist die monatlich zweimal erscheinende „Jugend-Gartenlaube“ (Nürnberg, Verlag der Kinder-Gartenlaube). Sie giebt außer den Erzählungen hübsche naturgeschichtliche Artikel sowie eine Menge von Notizen und Anregungen. Durch die besondere Pflege der Rubrik „Kleine Ecke“ und des Briefkastens, sowie zahlreicher Rätsel-Aufgaben ist auch hier der Charakter einer Zeitschrift herausgearbeitet. Sie teilt denselben mit der „Musikalischen Jugendpost“ (Stuttgart, Grüninger) und der „Kinderlaube“ (Dresden, Meinhold).

Die erstere verdient die besondere Beachtung von allen Eltern musiktreibender Kinder, denn sie unterstützt und ergänzt den Musikunterricht in einer ganz vortefflichen Weise. Erzählungen aus dem Leben berühmter Tonsetzer wechseln ab mit musikgeschichtlichen Stoffen, wie z. B. die interessante Artikelreihe „Einführung in die Oper“ von Griot u. a. m. Jedem Heft liegen leichte Originalkompositionen bei und von Zeit zu Zeit erscheinen Aufgaben theoretischer Natur, welche nicht mehr an Kenntnissen voraussetzen, als ein fleißiger Klavierschüler haben kann. Auch die bedeutenden Tonsetzer und Virtuosen der Gegenwart, unter letzteren besonders die kleinen Klavier- und Geigenspieler, werden berücksichtigt und im Bilde vorgeführt. Die Kinder erhalten durch diese hübsche Zeitschrift einen Begriff von der musikalischen Welt und werden sicher zu erhöhtem Eifer in ihrem eigenen Lernen veranlaßt, allerdings auch, wie der Augenschein lehrt, zu unendlichen Anfragen bei dem fast allzu geduldigen „Briefkasten-Onkel“! – Sein Kollege von der „Kinderlaube“ ist ebenfalls stark in Anspruch genommen und entledigt sich seiner Aufgabe mit derselben Langmut. Sehr hübsche Illustrationen, spannende Erzählungen, Schilderungen aus Natur- und Städteleben, deutsche Göttersagen und viel anderes machen den wohlgewählten Inhalt des schön ausgestatteten Bandes aus, der für Mädchen und Knaben gleichmäßig geeignet ist.

Wenden wir uns nun den Sammelbänden zu, die nur in dieser Form alljährlich ihr Erscheinen erneuern, so müssen wir zunächst noch einmal des in rüstiger Gesundheit stehenden Seniors von ihnen allen gedenken, um so mehr, als er für die anderen vorbildlich gewirkt hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_811.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)