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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Mittel etwas wohler erwachte. Sie bemühte sich, unbefangen und freundlich zu scheinen

„Ich habe Dich gewiß recht erschreckt, armes Kind – ich war so heftig gestern.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nur, Du bist nicht wohl, Mama!“

„Doch, doch! Sag’, kannst Du zu Tisch heraufkommen um drei Uhr?“

Ich wollte schon heftig verneinen, da sah ich ihre Augen so flehend, so angstvoll auf mich gerichtet, während ihre zitternden Finger sich in peinvollster Verlegenheit ineinander wanden. „Ja, Mama!“ sagte ich, „ich komme, selbstverständlich.“ – Ich durfte sie nicht verlassen, nicht einen Augenblick. All das Schwere mit ihr zu tragen, war ja das Einzige, was mir blieb in meinem jungen, schon so öden Leben.

„Ich habe zur Komtesse geschickt, sie soll mit uns speisen; es ist dann unbefangener. Komm nicht zu früh hinauf, die Brankwitzens –“

„Ach, die Brankwitzens!“

„Sie sind eingetroffen, vorhin.“

Ich nickte stumm.

Mama strich mit ihrer zitternden Hand über mein Gesicht, dann ging sie. Die Base half mir beim Ankleiden. Im Hause war eine schreckliche Unruhe; das Klopfen von Tapeziererhämmern, die irgend welche Draperie festnagelten, das Stimmen des Flügels aus weiter Ferne drang gleich spitzen Messern in meine schmerzenden Schläfen. Ueber den sonst so stillen Hof kamen Leute mit Körben und Paketen, der Postwagen hielt vor der Thür, und aus der Orangerie wurden Gewächse herübergeschafft. Die elektrischen Klingeln, die mein Stiefvater im ganzen Hause hatte anbringen lassen, ertönten jeden Augenblick mit ihrem schrillen nervenverletzenden Klang, mitunter so lange und andauernd, daß ich mir verzweiflungsvoll die Ohren zuhielt. In der Küche wurde mit Porzellan geklappert, als sei es gleichgültig, wie viel Scherben es gäbe nach vollbrachtem Tagewerk – der ganze Lärm, der einem großen Hausfest voranzugehen pflegt, war vernehmbar.

Draußen schien die Sonne vom klarblauen Himmel und leckte mit heißer Zunge an dem Schnee des Kirchendaches; zuweilen rutschte eine kleine Lawine herab, und die Dohlen umkreisten dann erschreckt ob dieses Ereignisses den Turm. Ich öffnete das Fenster; eine weiche milde Luft wehte herein, verfrühte Botschaft vom Lenz, trügerisches Flüstern, Schmeicheln von besserer Zeit. Wie weit war Frühling und Glück!

Gegen zwei Uhr kam die Komtesse. Ich ging ihr entgegen bis in den Flur, der kaum wiederzuerkennen war in seinem grünen Schmuck, zwischen dem man bunte Lampions angebracht hatte, Fahnen und farbige Seidenbänder.

„Erbarme Dich!“ sagte die Komtesse, „’s ist ja großartig! Die Len’ hat mich hercitiert, Kücken, ich soll wohl bei irgend was Gevatter stehen? Es ist ja manchmal nötig, eine Spatzenscheuche aufzustellen. Aber wie siehst Du denn aus? Kind, Kind, Du bist doch sonst ein kouragiertes Kerlchen – Kopf hoch! Und merke Dir, ich red’ kein Wort in Deiner Sache, ich wirke höchstens durch gänzliche Unbefangenheit.“

Sie umspannte mit ihrer großen Hand mein Genick und schüttelte mich ein wenig, als wolle sie mich ermuntern. „Nun, denn hinein in das diplomatische Diner!“

Mein Stiefvater machte ein sehr erstauntes Gesicht, als die Komtesse Mamas Zimmer betrat, in dem bereits Olga Sellmann mit ihrem Bruder meiner harrten.

„Entschuldigen Sie, lieber Wollmeyer,“ rief sie, „ich falle Ihnen da höchst unvorbereitet in die Suppenschüssel, aber Josephine hat heute Kopfschmerzen und ist schlechterdings nicht fähig, zu kochen. Da dachte ich, Wollmeyers werden wohl einen Teller Suppe übrig haben, will ’mal sehen, ob es wahr ist, daß ich immer meinen Platz an ihrem gedeckten Tisch finde.“

Sie hatte während dieser menschenfreundlichen Lüge Wollmeyer höchst kräftig die Hand geschüttelt, sich flüchtig gegen die Geschwister Brankwitz verbeugt, Mama auf die Stirn geküßt und saß nun in dem tiefen Sessel mit einer anscheinend so behaglichen und wohligen Miene, daß ich, trotz aller Pein der Situation, ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte.

Ich hatte sowohl Olga Sellmann wie Otto von Brankwitz mit einem stummen Kopfnicken begrüßt; meinem Stiefvater gab ich seinen forschenden bösen Blick ruhig zurück und setzte mich zwischen Mama und Olga Sellmann, ohne Teil am Gespräch zu nehmen. Es war eine wunderliche Gesellschaft. Die Gespräche drehten sich um ganz allgemeine Dinge, um politische Ereignisse, Berliner Neuigkeiten, Anekdoten und Aehnliches. Die Komtesse, die mit einer geradezu eisigen Miene über die Geschwister Brankwitz hinwegsah und, wenn sie direkt mit ihnen sprechen mußte, doch dabei wo anders hinblickte, lenkte das Gespräch auf das morgende Fest, fragte, ob sie – wir aßen heute in Mamas Zimmer – in dem Festsaal die Glücksbube mit den Gewinnen ansehen dürfe, und dankte im voraus für die Gaben, die ohne Zweifel in die Armenkasse fließen würden. Brankwitz wandte sich öfter an sie mit irgend einer Frage, die immer sehr kurz, wenn auch höflich beantwortet wurde.

„Kennen die gnädige Gräfin zufällig den Grafen Arvensleben auf Roddwitz?“

„Jawohl,“ antwortete sie, „was ist mit ihm?“

„O nichts, gar nichts! Ich hörte nur unterwegs im Coupé von ihm sprechen – nicht wahr, Olga? Sollen ja wunderbare Güter sein, die Arvenslebenschen!“

„Allerdings, jetzt suchen sie ihresgleichen“ erzählte die alte Dame. „Der Graf hat sie wieder hochgebracht. Als er sie antrat vor fünfundzwanzig Jahren sah es bös’ aus, aber durch seine Energie, seine vorzügliche Wirtschaft sind sie jetzt in musterhaftem Zustand; er ist der bestsituierte Grundbesitzer unseres Kreises.“

„So, so!“ sagte Brankwitz. „Will etwas heißen heutzutage, wo man gewöhnlich beim Landwirtspielen das bare Geld zusetzt.“

„Er hat sechs Kinder“ sprach die Komtesse weiter; „zwei verheiratete Töchter, eine unverheiratete und drei Söhne; der älteste steht bei den Gardedragonern.“

„Wird auch nicht billig sein,“ murmelte mein Stiefvater, „der alte Herr wird des öfteren seine milde Hand aufthun müssen.“ Er sah dabei Brankwitz eigentümlich an.

„Er hat sie höllisch in der Zucht, die Jungens,“ antwortete die Komtesse und schälte eine Reinette.

Mama war sehr still; sie sah elender aus den je. Olga Sellmann brachte das Gespräch wieder auf Näherliegendes, fand die Lose für die Lotterie zu billig – eine Mark, was dabei herauskommen solle?

„Ich finde, für unsere Westenberger Gesellschaft ist eine Mark schon zu hoch. Wir haben hier samt und sonders die Markstücke nicht so in Haufen liegen,“ redete die Komtesse dagegen.

Ein schrecklicher Mittag; und eigentlich begriff ich Mama nicht – es war ja nur ein Hinausziehen, ewig konnten wir doch die Komtesse nicht behalten. Sie würde nachher fortgehen, und dann kam der Sturm mit erneuter Gewalt, dann würde dieser blasse Mensch in dem tadellosen stutzerhaften Gesellschaftsanzug möglicherweise selbst reden, dann würde ich – ja, was würde ich? Er starrte mich unverwandt an; ich fühlte es, obgleich ich ihm keine Blick zuwandte.

„Anneliese,“ rief die Komtesse über den Tisch, „Dich entführe ich nachher, Du mußt mir noch ein wenig helfen bei meinen kleinen Geschenken für die Glücksbude. Ja, mein lieber Wollmeyer, Sie werden staunen, was Sie von mir bekommen! Höchste Prosa, aber höchst praktisch! Die Anneliese muß mir aber noch helfen, weil die Josephine doch –“

Ich lächelte; gute Tante Komtesse!

„Anneliese wird leider – pardon, Komtesse – wird leider ihrer Mutter ein wenig helfen müssen,“ widersprach mein Stiefvater. „Ich bin außer mir, Komtesse – aber –“

„Ich habe nichts zu thun für Anneliese, es ist alles in Ordnung,“ unterbrach Mama.

„Nun, sehen Sie, lieber Wollmeyer!“ triumphierte die Gräfin. „Also Du kommst nachher mit, Kücken!“

Das Essen war beendet, wir gingen in das kleine Zelt, wo der Kaffee bereitstand. Die Herren meinten, sie könnten doch den Damen nichts vorrauchen und zogen sich in Herrn Wollmeyers daneben liegende Stube zurück. „Bringen Sie mir den Kaffee herüber, Anneliese!“ befahl er.

Ich stellte zwei gefüllte Tassen auf einen Präsentierteller und schickte Friedrich damit hinein. Olga Sellmann empfahl sich; sie sei etwas angegriffen von der Reise und wolle ruhen. Sie ging mit einem spöttischen Lächeln.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_810.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2022)