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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 47.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

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Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (11. Fortsetzung.)

Gleich nach Tische kam der „Junge“, und die Base konnte doch nicht anders, als stolz zu ihm aufsehen und ihm zunicken. „Ein schmucker Kerl bist geworden, Robert,“ sagte sie bewundernd.

Er war früh in der Kirche gewesen und hatte uns vermißt.

„Die Anneliese hat die Zeit verschlafen“ entschuldigte die Base. „Sie ist das lange Aufbleiben nicht gewöhnt; wir haben eine Predigt für uns gelesen.“

„Ich war nach der Kirche beim Pfarrer und in der Schule. ’s ist noch ebenso wie früher und doch alles anders, Base. Und dann bin ich am Mühlbach entlang gewandert und habe mit einem Mühlknappen Bekanntschaft geschlossen. Da sind ja bedeutende Neuerungen gemacht, Hochmüllerei, Porzellan-Walzenstühle und eine recht stattliche Handelsmüllerei; das Mehl gehe bis nach dem Posenschen hinunter, sagt er. Uebrigens,“ fuhr er fort, „ist heute ein Tag, daß man mit vollen Zügen atmen muß, so recht zum Spazierengehen geschaffen. Wie ist’s, Base?“

„Ach, Robert, mit meinen alten Beinen! Du würdest bald ungeduldig werden. Aber Anneliese – gelt, Fräulein Anneliese, Ihnen macht’s Spaß?“ wendete sie sich an mich.

Er sah mich fragend an; er saß am Fenster und die Sonne schien über seinen braunen Krauskopf, und unter dem Schnurrbart blitzten seine Zähne beim Lächeln. „Sie sind ja gut zu Fuß, Fräulein von Sternberg – aber macht’s Ihnen auch Vergnügen, mit solch fremdem Menschen die Waldwege abzukleppern? Der Schnee ist tief, und bis zum Futterhäuschen im Heimbachgrund ist’s eine gute Stunde.“

„Ich fürchte mich nicht vor Schnee und weiten Wegen,“ sagte ich, „und freue mich, neue Spaziergänge kennenzulernen.“ Damit verließ ich das Zimmer, um mich für den weiten Weg anzuziehen.

So gingen wir diesen Tag zusammen und den nächsten und den darauf folgenden und erst in der Dämmerung kehrten wir jedesmal heim. Die Base ließ uns ruhig miteinander hinauswandern, die gute Seele hatte keine Ahnung, was die Welt von einer Ehrendame verlangt; sie redete eifrig zu, die schönen Stunden zu Ausflügen zu benutzen. Sie saß derweil am Fenster und las oder spann und erwartete uns mit heißem Thee und freundlichen Worten. Dann blieb Robert zum Abendessen, wozu die Base ihn einlud, und wir spielten „Dame“ oder ein einfaches Kartenspiel mit der alten Frau, um Nüsse wie die Kinder.

Alle seine Lieblingswege lernte ich kennen, und während wir so dahinschritten, erzählte er von Chicago, von dem großen Unternehmen, das sein Vater gegründet hatte und das jetzt in den Händen eines vorzüglichen Geschäftsführers gut genug aufgehoben sei, so daß er selbst ohne Sorge fern bleiben könne. Einmal auch waren wir übermütig wie Jungen und bewarfen uns über und über mit Schneebällen, und ein andermal saß ich wie ein Kind im Handschlitten und ließ mich von ihm spazierenfahren. Nicht einen Augenblick hatte ich das Gefühl, daß ich etwas thue, was gesellschaftlich für unmöglich gilt. Es war mir, als ginge ich an der Seite eines Bruders oder Vetters, neben jemand dem man vertraut gleich sich selber.

Die Base schaute wie fragend in unsere lachenden

Straße in Kanton.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_789.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)