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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Rinngraben? Langsam kam ihr die Erscheinung entgegen. Aber kein längst verblichener Salzschreiber wandelte daher, breitspurig die Fersen zuerst aufsetzend, wie es den Schnabelschuhen entsprach – mit den feinen Fußspitzen vorstechend, nahte ein unternehmender Mann von heute! Der Laternenschein fiel auf silbern schimmerndes aschblondes Haar. Nun, auch sie war eine Dame von heute! Sie ging, ohne ihn anzusehen, an ihm vorüber. In der Dämmerung kennt man sich nicht. Deutlich hörte sie, daß der Nachtwandler anhielt, dann sich wendete und von fern folgte. Sie mußte sich zwingen, daß sie nicht in einen rascheren Schritt verfiel, um diesem Geleit zu entgehen. Es war am besten, sie begab sich noch zu der Tanzunterhaltung.

Schon von weitem leuchtete das Festgebäude ihr entgegen. Bunte Lampions glühten zwischen den dunklen Bäumen, aus der geöffneten Glasthür des Saales strömte Lichtglanz und Musik. Etwas atemlos trat sie durch das eiserne Gitterthor; und jetzt, wo all die erleuchteten Laubgänge von plaudernden Gesellschaftsgruppen belebt waren, warf sie einen Blick rückwärts, wie wohl der vor einem Gespenst sich Fürchtende thut. Und sie fuhr auch wirklich zusammen. Schersen trat nach ihr ein, die Augen auf sie geheftet, ein Syringenträublein im Knopfloch. Also war er ihr schon von der Schlucht des Salzborns an gefolgt!

Ihre Finger zuckten, als wollten sie den eigenen Zweig wegwerfen. Aber im selben Augenblick fragte er neben ihr: „Haben Sie den weißen Nebelstreifen gesehen, der wie der feuchte Saum eines Nixengewandes an dem Quell verschwand? Und schaute nicht aus den tiefen Fensternischen und den an Kirchenpforten erinnernden Rundbogenthüren das alte Bürgertum mit seinen behäbigen Männern, den sittsam herben Jungfrauen?“

Sie schwieg betroffen. Die Ueberraschung ließ sie die Beängstigung vergessen, welche sie vorher empfunden hatte. In seinen Augen war ein Lächeln. „Wir müssen nun einmal immer dasselbe denken. Ist es Hypnose, Suggestion?“

Sie faßte sich. „Es ist die Verwandtschaft unserer Talente,“ sprach sie ruhig.

Er antwortete nicht sogleich. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als wüßte er es besser. Dann verbeugte er sich doch tief, wie dankend für eine höchste Ehre, und sagte: „Das Wort läßt mich hoffen, daß mein sehnlichster Wunsch sich noch erfüllt. Ich möchte nämlich so gern ein gemeinsames Werk mit Ihnen schaffen, mein gnädiges Fräulein. Ich bin etwas Konzertzeichner und denke es mir herrlich, wenn Sie erzählen wollten und ich dürfte zugleich die Zeichnungen dazu entwerfen.“

„Mir geht die Arbeit nicht so schnell von der Hand wie Ihnen,“ antwortete sie ausweichend. „Von der Novelle, die Sie erraten haben, ist nur der Anfang vorhanden.“

Er ließ sich, nicht abweisen. „Wollten Sie nicht als Samariterin ein Märchen für Ihre Armenschule liefern? Würden Ihre Schülerinnen sich nicht freuen, wenn kleine Bilder es schmückten? Wir könnten zum Beispiel einen Ausflug nach der Höhle machen, die zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend gehört. Da hausen Kobolde, Gnomen. Ich zeichne auch bei Licht, o, nötigenfalls im Finstern – in Ihrer Gesellschaft!“ kam es leise von seinen Lippen, während er mit ihr den Saal betrat. Und einem Einwand zuvorkommend, setzte er hinzu: „Bitten wir Frau Kern, daß sie eine Partie zur Höhle veranstalte. Ich werde mit ihr sprechen. Sie wünschen doch auf dem Eckdiwan dort zu sitzen, gnädiges Fräulein?“

Mit der vollendeten Höflichkeit des Kavaliers und der Geschwindigkeit des eine Ueberrumpelung bewerkstelligenden Offiziers geleitete er Gabriele zu dem Platz. Dann glitt er hinweg.

Herr von Stöckei, der bei einer Flasche Schaumwein gesessen hatte, vertrat ihm den Weg. „Wollte Ihnen noch Lebewohl sagen, Baron; es geht morgen fort.“

„Glückliche Reise!“ sagte Schersen eilfertig.

„Vorderhand bleibe ich noch im Thal,“ sprach Stöckei weiter. „Unser gemeinschaftlicher Bekannter hat mich zur Rehbockjagd eingeladen. Wollen Sie nicht mit, Ihren Besuch dort zu machen? Das Renaissanceschlößchen – ein wahres Bijou – und der vornehme Park bieten eine Fülle malerischer Punkte.“

„In der That!“ antwortete Schersen zerstreut und war fort.

Stöckei klemmte das Monocle vor das Auge. Dort saß Schersen neben dieser etwas spießigen Frau Kern mit so liebenswürdiger Miene, so einschmeichelndem Lächeln, wie er es vielleicht als Militärattaché in London für die Frau eines Gesandten gehabt hatte, die ihm bei politischen Aufträgen hilfreiche Hand leisten sollte. Aber hier, wo man nicht einmal ein Menuett à la reine zustande bringen konnte! Er verließ kopfschüttelnd den Saal.

Das Fest nahm den bade- und kurgemäßen raschen Verlauf. Ueber den Tanzenden lag es wie eine leichte rötliche Wolke; an den Wänden reihten sich die Ballmütter, kleine Spitzenrosetten über den von der Wärme aufgelösten Stirnfransen; die Nebenzimmer waren gefüllt von älteren Herren, die bei Cigarren und Bier, L’hombre und Skat saßen. Nur wenige Nummern noch zeigten die Tanzkarten.

Eben waren die „Nachtfalter“ von Strauß gespielt worden, nach deren Klängen junge Mädchen, von lichten Sommerkleidern und wehenden Schärpen umflattert, und Herren in spitzen Lackschuhen, bunte seidene Tücher in den weiten Ausschnitt der Westen gesteckt, sich gedreht hatten. Jetzt eilte Ilse zu Gabriele heran. Zugleich nahte dem Platz derselben auch Hauptmann Holl, der bis dahin am Thürrahmen zum Büffettzimmer gelehnt hatte.

„Ich amüsiere mich himmlisch,“ beteuerte Ilse so inbrünstig, als habe jemand daran gezweifelt. „Aber Herr Hauptmann Holl spielt sich heute auf den Methusalem hinaus, er hat erklärt, Rundtänze und Kinderkrankheiten lägen hinter ihm, und sich nur herabgelassen, mich zur letzten Française zu engagieren.“ Sie warf einen gereizten Blick auf die stattliche Gestalt, die so elegant aussah in dem mit Seide aufgeschlagenen Jackett.

Gabriele strich dem jungen Mädchen sanft die Locken aus der erhitzten Stirn, die, glatt wie die eines Kindes, zeigte, daß noch kein schwerer Gedanke, kein Kummer sie gefurcht hatte; dann zog sie Ilse neben sich auf den Diwan.

Holl lachte und seufzte zugleich. „Das ‚nur‘ ist dem Methusalem sehr schmeichelhaft, doch würde ein kleiner Gewissensbiß Ihrerseits ihm noch viel, viel lieber sein.“

Gabriele erriet. Daß er nicht getanzt hatte, war die Strafe gewesen für Ilses Nichtbeachtung seiner Ansichten, für die abermalige Unpünktlichkeit beim Erscheinen und die ausgesucht grelle Toilette. Vermittelnd sagte sie: „Die leidenschaftliche Tanzlust eines Fähnrichs verträgt sich nicht mit den Majorsepauletten, die bei Herrn Hauptmann Holl jeden Tag eintreffen können.“

„Nicht vor dem Manöver,“ berichtigte Holl und zog sich einen Stuhl an Gabrieles andere Seite.

Gabriele nickte. „Ach ja, ich habe gehört, daß Sie sich nie Illusionen hingeben wie so viele andere, sondern auf den Tag berechnen, wann frühestens die Beförderung eintreffen kann. Und welche Garnison wünschen Sie sich?“

„Mit Wünschen gebe ich mich nicht ab“ – er hielt inne; ein rascher verletzter Blick von Ilse hatte ihn getroffen. Seine schwarzen Augen blitzten mit den weißen Zähnen um die Wette, als er hinzufügte: „Ich meine – nur nach dieser Seite hin. Ich gehe, wohin man mich schickt.“

„Sie würden sich doch umgucken,“ sagte Ilse mit einiger Verwirrung über seine Einschränkung, „wenn man Sie in ein Nest an der Ostgrenze schickte, wo es keine Frühstückskeller mit Austern, keine kleinen famosen Spielhöllen giebt, wo alle schneidigen Paletots und Mützen ein Jahrhundert zu spät Mode werden.“

„Solche Passionen habe ich nie gekannt,“ erwiderte er heiter, „auch als junger Lieutenant nicht, da mein Vater kein Krösus, sondern Professor der Mathematik war, das heißt für Luxus nichts übrig hatte.“

Sie machte eine zweifelnde Bewegung mit der Hand. „Na, da wird gepumpt; das kennt man!“

„Dagegen muß ich mich verwahren,“ antwortete er, ernst werdend. „Ich bin zur Kriegsakademie einberufen, zur Reitschule kommandiert gewesen und mit der mäßigen Extrazulage ganz gut ausgekommen, die mir von zu Hause gewährt werden konnte. Man muß nur nicht nach den Anschauungen anderer, sondern nach der eigenen Einsicht, den eigenen Verhältnissen sein Leben ordnen, sich sagen, daß nicht die famosen Spielratzen und die Löwen mit den schneidigen Mützen, sondern die, welche die famosen Examina machen, die schneidigen Pläne ausarbeiten, zu den höheren Graden aufrücken.“

„Und daran wollen Sie als junger Lieutenant immer gedacht haben?“ fragte Ilse ungläubig.

„Selbstverständlich!“ Es lag eine unbeirrbare Festigkeit in seiner Stimme, als er hinzusetzte: „Mein Beruf, meine Laufbahn war und ist mir zu allen Zeiten das Höchste gewesen.“

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