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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

wollten selbst vor den Lichtern des Christbaumes und unter dem Druck zweier alter Frauenhände nicht still werden; sie achteten auch nicht des kleinen Mädchens, das mit niedergeschlagenen Augen und blassem Geacht dasaß, bis – bis sie die Augen aufhob und den verfolgten Mann anschaute. Da zerstoben sie, wie der Nebel zerfließt. Es liegt ein Zauber in Menschenaugen, in jungen reinen Menschenaugen.“

„Guck’ mich ’mal an, Annelieseken,“ sagte die Base, als er geendet, und ich mit nie gekannter Verwirrung auf meinem Bänkchen saß, „hast Du ’was Besonderes in Deinen Augen?“

Er lachte herzlich und laut und ich lachte fröhlich mit.

„Ach ja so, das sollte ein Märchen sein. Und lch hab’ gedacht, Du meintest Anneliese! Ja, lacht nur, lacht nur, Kinder! Ihr habt’s beide nötig, auch Sie, Anneliese. Ein Gottesglück, daß bei der Jugend Regen und Sonnenschein wechseln wie im April.“ Und sie nickte mit dem alten sorgenschweren Gesicht. „Wie alt seid Ihr denn beide? Anneliese wird neunzehn, und Du? Es war ja doch wohl im Anfang der fünfziger Jahre, als Du auf die Welt gekommen bist, Robert? Bald nach die große Teuerung war’s, aber auf Deiner Taufe merkte man davon nichts, da hatten wir Kalbsbraten und Forellen, die waren aus dem Mühlenfischkasten. Hab’ sie selbst gekocht, wie wir aus der Kirche gekommen sind, ganz blau, und jede hatte ein Blättchen grüner Petersilie im Maul. Und Du lagst so hübsch in Deinem Kissenbund, so recht wie ein Prinz, und hast Dich so brav betragen in der Kirche; und ich habe Dir das alberne Löffelchen geschenkt, das liegt noch in meiner Kommode.“

Leise redete die alte Frau so vor sich hin, wie ein zweites Märchen klang es. Draußen flockte der Schnee, der Weihnachtsschnee; meilenfern war alles Leid, aller Kummer, alle drohende Zukunft, wie auf einer einsamen glücklichen Insel weilten wir, und alle üblen Geister hatten uns verlassen. Nur einer war geblieben, unsichtbar, und doch ahnte ich seine Nähe, ohne sie zu begreifen; ein böser kleiner geflügelter Schlingel mit Pfeil und Bogen, der Rosen knospen ließ selbst in tiefer Winternacht – ja, ja, er war da, aber noch verstanden wir ihn nicht, ganz gewiß nicht.

Als das immer leiser werdende Plaudern der alten Frau verstummte, als der Schlummer sie übermannte, blieb es ganz still im Zimmer, denn wir beide sprachen kein Wort. Plötzlich sprang er empor und ergriff meine Hand. „Schlafen Sie wohl, mein gnädiges Fräulein! Werd’ ich Sie morgen wiedersehen? In der Kirche?“

Ich nickte. Dann war ich allein mit der alten Frau; der Schall seiner Tritte verhallte auf der Treppe. Die Base erwachte plötzlich und war ein wenig ärgerlich, daß man sie hatte schlafen lassen, ging aber doch mit glückseligem Gesicht in ihr Bett. Ich stand noch lange am Fenster und sah einer langsam dahinschreitenden Männergestalt nach, bis sich die Straße hinter den Häusern des Dorfes verlor. Dann warf ich mich in die Kissen, aber schlafen konnte ich nicht.


Am andern Tage schien eine erbarmungslos grelle Wintersonne über das weiße Laad und schmolz mit ihren Strömen von Licht, die in jedes, auch das kleinste Winkelchen drangen, allen Märchenzauber hinweg. Die Base sah um Jahre gealtert aus in der hellen Morgenbeleuchtung; sie war in mein Zimmer gekommen und beobachtete mit trüben Augen, wie ich die Rosenschachtel aus Cannes wieder postfertig machte und an meinen Stiefvater adressierte. Ich war sehr traurig; ich hatte vorhin Mamas Kiste ausgepackt und ihr außer einem sehr oberflächlich gehaltenen Brief ein paar nichtssagende Geschenke entnommen, Sachen, wie sie ein Mensch schenkt, dem das Geben eine Unbequemlichkeit ist, der ärgerlich das erste beste kauft und giebt. Erstlich ein ledernes Täschchen mit Näheinrichtung, wie sie zu Dutzenden in den Galanteriewarenhandlungen hängen; zweitens ein Tagebuch, in rotes Leder gebunden; drittens Glacéhandschuhe, hier oben kaum zu benutzen; dann ein eingerahmtes Kabinettbild des alten Kaisers, wie er sich über die Wiege seines Urenkels beugt, die sehr schlechte Wiedergabe eines sehr schlechten Bildes; ein bissel Näscherei und ein bissel rosa Briefpapier mit blauen Veilchen in den Ecken.

So schenkte Mama früher nicht. Die armseligen Kleinigkeiten, sie waren immer mit Verständnis, mit so zartfühlender Liebe ausgewählt gewesen – letztes Jahr gab sie mir Papas winziges Eisernes Kreuz, das er im Knopfloch zu tragen pflegte, wenn er in Civil ging. Ich hing es, zu Thränen gerührt, an meine Uhrkette und war so glücklich darüber. Ein einziger solcher Beweis, daß sie mich noch liebte, und ich wäre heute herzensfroh gewesen, aber – sie hatte an anderes zu denken. Mein Stiefvater schrieb mir, sein Weihnachtsgeschenk erwarte mich daheim, Mama habe bereits Sehnsucht nach mir und in der ersten Hälfte des Januar werde er mich persönlich abholen.

„Es wird Unangenehmes drauf kommen, Annelieseken,“ sagte die Base, als sie die Schachtel hinuntertrug, um sie Herrn Hübner zu übergeben. Und als sie zurückkehrte, wiederholte sie: „Es wird Unangenehmes kommen, wenn er die Schachtel aufmacht – wie soll’s nur noch werden. Ich hatte mich alles so anders gedacht. Ich kann mich gar nicht freuen über den Jungen, Annelieseken; das Beste wär’, man läg’ da drüben unter dem weißen Schnee.“

(Fortsetzung folgt.)

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Tötende Geister.
Von C. Forst.


Der Aberglaube, das düstere Erbe vergangener Jahrtausende, flackert noch immer in den Seelen civilisierter Menschen fort. Nur langsam weicht er der Aufklärung; mit tausend Scheinbeweisen sucht er sie zu widerlegen, ja mit listiger Art entreißt er der Wissenschaft ihre Waffen und versteht dieselben geschickt zu seinem Nutzen zu verwerten.

Gerade in der Neuzeit ist es durch ein eifriges Studium gelungen, in rätselhafte Zustände des Körpers und der Seele genauere Einblicke zu erhalten. Nach langem Streiten und Schwanken wurden endlich der Somnambulismus und der magnetische Schlaf in ihrem wahren Wesen erkannt; an Hypnotisierten erfuhr man, welche Macht die Erweckung einer bestimmten Vorstellung, die Suggestion, auf die Menschen ausübt. Wunder und Zeichen früherer Zeiten erschienen endlich als natürliche Vorgänge, die ein geübter Hypnotiseur bei einem dazu sich eignenden Menschen zu jeder Zeit hervorrufen kann. Aber der Aberglaube kehrt sich nicht daran; seine Jünger hypnotisieren gleichfalls, suggerieren fleißig die seltsamsten Dinge ihren willfährigen Medien und verblüffen durch ihre Leistungen die weniger erfahrenen und unterrichteten Zuschauer. So wird die Hypnotisierte zu einer Hellseherin erhoben und die Visionen, denen sie ausgesetzt wird, giebt man für Geistererscheinungen aus; man entdeckt prophetische Träume und bringt Beweise bei für Ahnungen der Seele.

Die bedauernswerten Verblendeten! Sie glauben wunder wie weit sie in ihrer Geheimwissenschaft fortgeschritten seien, und in Wirklichkeit sind sie lediglich Opfer einer Selbsttäuschung; die Geisterwelt, die sie scheinbar umgiebt, steckt nur in ihrem eigenen überreizten Gehirn, auf der vermeintlichen Höhe der Bildung stehen sie ganz im Banne des Aberglaubens und seufzen gleich den nackten Wilden auf der untersten Kulturstufe unter der peinigenden Gewalt der Dämonen, die ihre eigene Einbildungskraft entfesselt hat. Daß diese Wahngebilde dank der Macht der Suggestion recht gefährlich werden können, unterliegt keinem Zweifel, und für jeden Vernünftigen der seinen Geist und Körper nicht zerrütten will, sollte dies ein Grund sein, die verwegenen Versuche, in das Land der Geister einzudringen oder Hellseherei zu erlangen, zu unterlassen sowie andere von solchem Vorhaben fern zu halten; denn es giebt allerdings „tötende Geister“, wenn sie auch anders beschaffen sind, als die Abergläubischen meinen.

Daß aufregende, womöglich mit hypnotischen Experimenten verbundene Sitzungen mitunter ein tragisches Ende nehmen, ist wohl bekannt. Erst vor einiger Zeit hat sich auf dem oberungarischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 778. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_778.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)