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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Brankwitz dagegen nimmt, dachte ich, und „Scheusal!“ setzte ich hinzu. Was nur der Wollmeyer sagen wird, wenn er erfährt, daß Robert Nordmann – – ja, da war wieder das Unheimliche, das sich meinem Wissen entzog! Der Schleier der Vergangenheit, der eine Schuld barg! Und Robert Nordmanns Mutter war mit hinein verflochten und sein Vater. Ach, sein Vater, der war ja bestraft, der sollte ja –

Ich empfand plötzlich wieder diese niederdrückende unheimliche Angst – sein Vater hatte gesessen, war der Unterschlagung verdächtig – die ganze Freude an der Begegnung war mir mit einemmal genommen. Aber was konnte er dafür? Pfui, Anneliese! schalt ich mich. Und er sprach so ruhig von seinem Vater. Ob er tot war, der Mann, ob er nicht doch schuldlos war?

In Gedanken versunken, hob ich den Deckel von einer Schachtel ab. Ein betäubender Blumenduft quoll mir entgegen, prachtvolle frische Rosen, Orangeblüten und Veilchen. Für mich? Von wem? Ich sah den Postvermerk: Cannes. Ah, Brankwitz! Mein Erstes war, die Schachtel zu nehmen, um sie aus dem Fenster zu werfen, da fiel mir auf, daß das Paket als Wertsendung bezeichnet war. Nun untersuchte ich den Inhalt näher, und da kam ein wohlbekanntes Etui von rotem Juchtenleder zum Vorschein, das meinen Namenszug in Goldpressung trug. Das Armband! Er wagte es, mir das Armband zu schicken, den ersten Vorboten des wieder beginnenden Kampfes! Der Waffenstillstand neigte sich also seinem Ende zu. Gab’s denn kein Entrinnen?

Ich will es nicht, ich will es nicht haben! stieß ich hervor, warf die Blumen in die Schachtel zurück und setzte den Deckel darauf. Wohin damit? Die Adresse des Absenders war mir unbekannt. Cannes? Wieviel Fremde sind in Cannes! Behalten wollte ich es auch nicht, es hätte eine falsche Deutung zugelassen. Ich werde es Herrn Wollmeyer schicken mit der Bitte, es seinem Neffen zurückzustellen, beschloß ich. Herrn Wollmeyers Kiste rührte ich nicht an, auch Mamas Sendung nicht. Dann kam die Base und holte mich.

„Jetzt müssen Sie etwas essen, Anneliese,“ sagte sie, „und den Baum nehme ich mit in meine Stube, damit auch der Junge etwas davon hat.“

Und nun saßen wir zu Dreien an dem weiß gedeckten Tisch, dem „Jungen“ gegenüber ich, die Base zwischen uns. Die Weihnachtslichter warfen ihren Schein über das traute Zimmer und aus den Punschgläsern kräuselte duftiger Dampf. Die alte Frau konnte vor Freude und Aufregung kaum essen, sie nötigte uns nur immerzu, und dann fragte sie mich: „Ist es nicht wie ein Traum, Annelieseken?“

„Ja, Base, wahrhaftig!“ Ich sah den schlanken Mann dort an, der mir so fremd war und doch so vertraut. Wie hübsch er mit der Alten verkehrte, wie ernst und wie herzlich klang sein Lachen! Er streichelte der Base die Hand und erinnerte sie an kleine Geschichten aus ferner Zeit, und als sie wie unter schwerer Last den Kopf senkte, da sagte er freundlich: „Kopf oben, Altchen! Sieh’ mal, es hilft doch nichts. Und mach’ Dir keine so trübe Gedanken, es wird sich alles ganz glatt abwickeln, glaub’ mir’s! Vorläufig ist’s noch nicht so weit – so lange ich im bunten Rock stecke, unternehme ich nichts.“

„Ach, Robert, das bringt mich noch ins Grab – ich wollt’, ich läge da, wo das Hannchen liegt,“ klagte sie.

Ich saß dabei in peinvoller Verlegenheit und wagte nicht, ein Auge aufzuschlagen. Da war es – das Schreckliche!

„Hör’ mal, Base, sei vernünftig,“ ermahnte er ernsthaft, „Dich brauche ich noch. Soll ich etwa – –“

„O Jesus, nein nein!“ wehrte sie. „Wenn ich nur wüßte, wie’s enden soll!“

„Gut, gut! Prosit, Base! Lassen wir Deutschland leben und alle, die das Herz auf dem rechten Fleck haben! Ihr Wohl, Fräulein von Sternberg!“

„Ach Gott, das Annelieseken!“ murmelte die Base.

„Wie meinst Du?“ fragte er hastig, und als ich ihn erschreckt ansah, flammte eine jähe Röte über seine Stirn auf der ich jetzt deutlich eine tiefe Falte gewahrte, die ihm ein älteres Ansehen gab als vorher. Dann aber verstummte auch er, setzte das dampfende Punschglas auf den Tisch zurück und schaute an mir vorüber, als interessierte ihn der alte grüne Kachelofen augenblicklich am meisten auf der Welt.

„Nun bist Du wohl böse?“ fuhr die alte Frau leise fort, mit niedergeschlagenen Augen, die knochigen Hände auf dem Tischtuch gefaltet. „Robert, ich mein’s ja nur gut. Laß doch, rühr’ nicht daran Robert, Du stichst in ein Wespennest!“

„Base, Base, was ist aus Dir geworden!“ sagte er nun. „Ist Dir so wenig gelegen an Recht und Ehre? Verstehst Du nicht, was ich meine? Doch, Du weißt’s, Du willst es nur nicht wissen, aber ich sage Dir, früher setze ich meinen Fuß nicht wieder auf das Schiff, ehe nicht in jeder Zeitung zu lesen steht, daß – –“

„Pst, um Gotteswillen!“ unterbrach die Base den jungen Mann, der erregt aufgesprungen war. „Denk’ doch an die Anneliese! Ach, Annelieseken, gehen Sie lieber in Ihre Stube – Robert, überlege doch, Wollmeyer ist ja nicht allein, er hat doch jetzt –“ und ihre Blicke hingen in Seelenangst an mir.

Der Neffe antwortete nicht; er war ans Fenster getreten und starrte in die Nacht hinaus. Ich erhob mich zum Gehen, da wandte er sich, und schweigend sahen wir uns in die Augen.

„Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein,“ bat er, „bleiben Sie! Wenn Sie jetzt fortgehen, werden die Schatten der Vergangenheit uns erdrücken, die alte Frau und mich. Ich verspreche Ihnen, ganz sanft und artig zu sein; es ist nur alles so fürchterlich lebendig geworden und wenn eine Wunde, die niemals heilen will, wieder frisch aufgerissen wird, dann ist der Schmerz stärker als zuvor. – So, Base, nun sei gut!“ Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter. „Jetzt reden wir nicht mehr von früher, jetzt blicken wir nicht in die Zukunft, wir wollen der Gegenwart froh werden. Base, stecke frische Kerzen auf die grünen Zweige, die alten sind heruntergebrannt, und dann erzähl’ mir ein Kindermärchen aus alter Zeit, ein Weihnachtsmärchen! Es war einmal – Wie? Du weißt keines mehr?“

Die alte Frau schüttelte den Kopf, während sie einen Wachsstock in längliche Stückchen zerschnitt und wir einen Platz am Ofen für sie zurecht machten. „Nun, dann will ich eins erzählen,“ lachte er, und wir setzten uns zusammen, alle Drei; er auf der Ofenbank und ich auf dem Fußschemel vor der alten Frau in ihrem Lehnstuhl.

„Es war einmal ein kleines Mädchen,“ begann er neckend, „das lief am Weihnachtsheiligenabend seiner Wärterin davon und saß am Straßenrand im Schnee und weinte.“

„Das ist ja gar nicht wahr!“ sagte ich verlegen.

Er achtete aber nicht darauf und fuhr fort: „Da kam ein Schlitten angefahren, und da saß ein Mann drin, der sah ihre Thränen und nahm sie mit in den Schlitten und sagte: ‚Ich will Dich nach Hause bringen.‘ Und er ward so froh, als sie neben ihm saß, denn er war traurig und einsam gekommen und die Gespenster der Vergangenheit hatten sich in seinen Schlitten gesetzt und ihn gefragt mit blassen Lippen und toten Augen: ,Weißt Du dies noch? Weißt Du jenes noch?‘ Da hat er gemeint, das Herz müsse ihm zerspringen vor Angst. Als aber das kleine Mädchen eingestiegen war, flohen die Schatten vor dem leuchtenden Blick der dunklen Augen, den selbst die Thränen nicht hatten trüben können. Und dafür kam allerlei lustiges lachendes Gesindel, flachsköpfig und barfuß wie Dorfkinder, das lief neben dem Schlitten her und kletterte auf die Pritsche und setzte sich auf die Pferde zwischen die Schlittenglocken und kicherte und lachte und fragte ebenfalls: ,Weißt Du dies noch und das noch? Denkst Du noch an den Christbaum in Deines Vaters Hause, an die Weihnachtskuchen, die die Mutter Dir ins dicke Fäustchen gab? Denkst Du noch, wie Du dem Fuchs nachgeschlichen bist durchs Tannendickicht und wie Du den Vögeln des Waldes ihr Pfeifen abgelauscht hast? War’s nicht herrlich, wenn durch die duftenden Tannen die Sonnenstrahlen spielten? War’s nicht wunderbar, wenn sie sich in Sturm und Wetter bogen, die starken Bäume?‘ Und da hatte der Mann sie plötzlich wieder lieb, seine schöne grüne Heimat, und vergab ihr, daß sie ihn einst verstieß. Und in des Mädchens Augen waren auch die Thränen versiegt und ihr Mund lächelte wieder. Die kleinen Gesellen hatten alles Herzeleid in die Flucht geschlagen, alle die bösen bleichen Gespenster. Aber dann ist das kleine Mädchen ausgestiegen und der Mann ist allein auf den Kirchhof gegangen, an das heiligste schmerzvollste Grab, das es auf Erden geben kann für jeden Menschen, an das Grab seiner Mutter. Und da standen sie wieder neben ihm, die bösen Geister, und schüttelten ihn mit übermenschlicher Kraft<, sie folgten ihm durch die Gassen

des Dorfes, peitschten seine arme Seele, schrieen ,Rache, Rache!‘ und drangen mit ein in den Frieden einer trauten Stube, ja sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_776.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)