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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

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Blätter und Blüthen.


Julie Ludwig †. Das schöne Thüringer Land hat dem deutschen Volke schon manches Erzählertalent geschenkt. Eine Landsmännin von E. Marlitt und Stefanie Keyser war auch Julie Ludwig, die am 13. September d. J. zu Arnstadt gestorben ist. Ein Teil ihrer schriftstellerischen Thätigkeit war der Jugend gewidmet, die sie anzog durch innige Erfassung der Kindesseele. Zugleich hat sie für Erwachsene ausgezeichnete und vielgelesene Erzählungen geschaffen, von denen einige, wie „Waldemars Brautfahrt“ und die Weihnachtsgeschichte „Nach Jahren“, in der „Gartenlaube“ erschienen sind. Auch die patriotischen Lieder, die sie unter den Stürmen des großen Krieges von 1870 dichtete, haben warmen Anklang und weite Verbreitung gefunden.

Julie Ludwigs Schöpfungen sichern ihr ein dauerndes Gedächtnis. In das harmonische Zusammensein der drei kunstbegabten Geschwister – ihr Bruder Karl ist der hervorragende Berliner Landschaftsmaler und ihre Schwester Auguste hat sich als Genremalerin einen Namen gemacht – reißt ihr Tod eine schwere Lücke. Mit den beiden Zurückgebliebenen aber trauern viele Verwandte und Freunde um den schweren Verlust. Denn wer ihr nahte im Leben, der fühlte den erhebenden Einfluß eines wahren, guten Menschen.

Photographie im Verlag von Dr. E. Albert u. Cie. in München.
Der Feind naht!
Nach einem Gemälde von Minna Stocks.

Der Ungeratene. (Zu dem Bilde S. 769.) Es ist Winterszeit. Frau Erszebet und ihre Ziehtochter Maria hatten den großen Tisch näher zum Ofen gerückt, um nach eingenommenem Frühstück zur Nadel zu greifen, als sich die Thüre aufthut und ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann in die Stube tritt, bei dessen Anblick sich in den Mienen der Frauen Freude und Unmut, Zärtlichkeit und Besorgnis in seltsamer Mischung malen. Es ist Ferencz, der Sohn des Hauses, der „Ungeratene“, wie ihn die Dorfleute nennen, vielleicht nur deshalb, weil er sie alle an Mut und Körperkraft überragt.

Dabei ist aber Ferencz im Grunde seiner Seele ein herzensguter Junge, der keinem Kind ein Leid zufügt und die alte Frau, mit welcher er im beständigen Kriege lebt, ebenso zärtlich liebt wie sie ihn. Beide haben eben heißes Blut in den Adern! So ist es gekommen, daß endlich nur ein einziges Menschenkind auf Seite des „Ungeratenen“ steht, ein Menschenkind allerdings, dessen Lieblichkeit und Herzensgüte ihm reichen Ersatz bietet für die Feindseligkeit der ganzen kleinen Dorfwelt.

Die schwesterliche Neigung, welche Maria von frühester Jugend für den älteren Spielgenossen, Freund und Beschützer empfand, ist mit der jungfräulichen Reife zu innigster Liebe erblüht, und so sehr sie das heftige Wesen des Jünglings bedauert, es kann ihre gute Meinung von ihm um so weniger beirren, als sich der ungeberdige Kraftmensch ihr gegenüber stets lammfromm und geduldig zeigt.

Aber gerade diese Liebe, die auch im Herzen des starken Mannes in hellen Flammen emporschlug, führte die Dinge zu schlimmer Wendung.

Natürlich erregte Marias blühende Schönheit auch anderer junger Leute Wohlgefallen; und eines Tages flog die Kunde durch das Dorf, Ferencz habe einen zudringlichen Freier seiner angebeteten Maria mit solcher Wucht zu Boden geschleudert, daß er „für tot“ vom Platze getragen worden sei.

Nun war geschehen, was man längst vorausgesehen, nun wurde der „Ungeratene“, der Meinung seiner Feinde nach, reif für den Galgen, an den sie ihn so oft, gewünscht. So arg kam es nun zwar nicht. Nachdem sich der Totgeglaubte von seinem Schrecken erholt, zeigte es sich, daß er außer einigen tüchtigen Beulen ganz und heil geblieben war, daher es denn auch, für den gewaltigen Helden. mit einigen Tagen Haft im städtischen Arrest sein Bewenden hatte. Allein auch diese „milde Strafe“ trug nicht zur Sänftigung des „Ungeratenen“ bei, noch weniger aber thut dies jetzt der erzürnten Frau Erszebet Bußpredigt, welche den vor wenigen Stunden in Freiheit Gesetzten daheim empfängt.

Es ist der Augenblick, den die Hand des Künstlers in unserem Bilde festgehalten hat. Keifend und scheltend steht Frau Erszebet vor dem unbußfertigen Sünder, vergebens bemüht, dessen Sinn durch den Gebrauch aller erdenklichen Kraftworte zu erweichen. Ferencz kennt sie längst und denkt, indem er leise vor sich hinpfeift: „Jsten, usce,, rede, was Du willst, kommt mir ein Zweiter ins Gehege, so geht es ihm nicht besser wie dem Ersten.“

Aber Maria, um deretwillen der wilde Pußtasohn gekämpft und gelitten, übernimmt mit dem feinen Takt und dem diplomatischen Geschick des liebenden Weibes die Vermittlerrolle zwischen Mütter und Sohn.

Der Erfolg ist um so weniger zweifelhaft, als die beiden Gegner nichts sehnlicher wünschen, denn versöhnt wieder friedlich miteinander weiter zu leben. Und wenn erst die liebliche Vermittlerin als junge Hausfrau ihre volle Macht über das Gemüt ihres „Ungeratenen“ entwickeln kann, dann wird ja wohl auch der häusliche Friede dauernd werden. F. Sch.     

Jung-Deutschland in Afrika. Der deutsche Kolonialbesitz in Afrika hat auf einem Gebiete, das ihm doch anscheinend ganz ferne liegt, eine eigenartige Verschiebung bewirkt, auf dem Gebiete der Jugendlitteratur. Führten uns, die wir heute im mittleren Lebensalter stehen, die Erzähler unserer Jugend nach Defoes und Coopers Vorbild in die Jagdgründe der Rothäute Amerikas, auf einsame Korallenriffe der Südsee, so liegt der Schauplatz der exotischen Heldenthaten, welche der heutigen deutschen Jugend vorgeführt werden, immer häufiger in Afrika, und zwar in den Teilen von Afrika, die unter des Deutschen Reiches Hoheit stehen. Und das ist auch ganz gut. Wenn die Verfasser solcher Jugendschriften ihre Aufgabe richtig verstehen, so können sie in das anmutige Gewand ihrer Geschichte viel Belehrung über die thatsächlichen Verhältnisse verweben und so dem Heranwachsenden Geschlechte einen Begriff von dem Leben und Treiben, der Natur und den Völkern Deutsch-Afrikas geben. Ein Schriftsteller, der sich ganz bewußt – und wir fügen hinzu, mit Glück – dieser Aufgabe unterzogen hat, ist der unsern Lesern wohlbekannte C. Falkenhorst. Seine Kenntnis von Land und Leuten im Schwarzen Erdteil hat er schon wiederholt in der Form von Erzählungen für die reifere Jugend nutzbar gemacht, wie in seinem „Ostafrikaner“, seinem „Afrikanischen Lederstrumpf“ u. ff., Erzählungen, die gerade um ihres kulturhistorischen und geographischen Inhalts willen auch manchem Erwachsenen eine anziehende und förderliche Lektüre boten. Jetzt ist Falkenhorst mit der Ausarbeitung einer neuen Reihe solcher „Erzählungen für jung und alt“ beschäftigt, die den Titel führt „Jung-Deutschland in Afrika“ und von der bereits drei Bändchen erschienen sind, von Maler R. Hellgrewe hübsch illustriert (Dresden–Leipzig, Alex. Köhler). Wir wünschen dem Unternehmen unseres Mitarbeiters einen guten Erfolg, den kleinen Bändchen recht viele Leser.



Inhalt: An Deutschlands Volksvertreter. Gedicht von Emil Rittershaus. S. 757. – Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (9. Fortsetzung). S. 758. – Das neue Reichstagshaus. Von Emil Peschkau. S. 762. Mit Abbildungen S. 761, 762, 763, 764, 765 und 766. – Der Winter in der Kinderstube. S. 766. – Zeit bringt Rosen. Novelle von Stefanie Keyser (1. Fortsetzung). S. 768. – Der Ungeratene. Bild. S. 769. – Blätter und Blüten: Julie Ludwig †. S. 772. – Der Ungeratene. S. 772. (Zu dem Bilde S. 769.) – Jung-Deutschland in Afrika. S. 772. – Der Feind naht! Bild. S. 772.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_772.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2023)