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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

von Tuberosen und Lorbeer in ihre Stube zu befördern, erwischte sie mich und zog mich zu sich hinein. Mir war zu Mute wie in der Kirche in den ernsten Räumen, wo jedes Stück eine Beziehung zu Gabriele hat. Die Bücher – hauptsächlich über Entdeckungsreisen – die blasse Photographie unter den Palmenzweigen, die Gold- und Silberstufen, die bei ihr die Nippsachen ersetzen! Aber nun sind wir so befreundet, daß Gabriele mir sogar erlaubt hat, sie hierher zu begleiten,“ fügte sie ganz stolz hinzu. „Da dankte ich natürlich für die Reise nach dem Nordkap, auf die mich unsere Bekannten aus der Wollspinnerei mitnehmen wollten.“

Welch ein warmes unschuldiges Herz! dachte Holl – und welch ein kleiner Unband!

Die Schlucht öffnete sich nach einem Wiesenwege, und vor den beiden, die jetzt schweigend dahinschritten, zeigte sich ein kleines lebendes Bild: Schersen, der das Knie leicht vor Gabriele beugte und ihr ein Sträußchen Blumen bot, deren Farbe dem Tagesgestirn entlehnt schien, wie es für ihren Namen „Sonnengünsel“ geziemend ist. Holl konnte eine leichte Ironie im Ton nicht unterdrücken, als er sagte: „Da hat Schersen auch etwas Hübsches gefunden.“

„Das einzige Blümchen, das dem spröden Boden des Kalkthales entsprießt,“ setzte dieser hinzu, die Neuankommenden begrüßend.

„Und das so, von Künstlerhand geordnet, von dem bräunlichen Federgras überfüttert, zu einer zarten Schönheit wird,“ erwiderte Gabriele, wirklich erfreut, nach dem dargebotenen Strauß greifend.

„Nehmen Sie sich in acht,“ warnte Ilse lachend: „Bei uns gilt der Glaube, daß man mit Blumen, die in der Hand warm geworden sind, andere bezaubern könne.“

Gabriele schob zu Ilses großem Vergnügen das Sträußchen etwas eilig aus der Hand in ihren Gürtel. Unmerklich lächelnd befestigte Schersen eine Blüte, die er zurückbehalten hatte, an seinem Rock.

„Sind Sie es wirklich, Baron?“ tönte da eine fremde Stimme dazwischen. Vom Waldschlößchen, das am Waldessaum aus jungen Bäumen und blühenden Bosketten aufragte, kam ein Herr herab, dessen Anzug in der Breite an Heinrich VIII. von England, durch das Schuhwerk an Till Eulenspiegel, durch den Bart an Theodor Körner erinnerte, das heißt, der ganz modern war.

„Traute meinen Augen nicht, als ich den Namen ‚von Schersen‘ in der Badeliste fand. Vermutete Sie in Baden-Baden oder Ostende und finde Sie hier!“

Das herkömmliche „Ah!“ der Ueberraschung, mit dem Schersen antwortete, klang sehr gleichgültig. Dann vollzog er die übliche Vorstellung. „Erlauben die Damen: Herr Rittergutsbesitzer von Stöckei.“

Dieser spendete Grüße in allen Schattierungen vom vertraulichen Händedruck mit Schersen bis zum leichten Neigen des Kopfes zu Ilse hin, das kundthat, er betrachte sie als Nebensache. Dann schloß er sich der Gesellschaft an, die sich auf den Heimweg begab.

Während seine Augen von dem Sträußchen in Gabrieles Gürtel zu der Blume in Schersens Knopfloch glitten, hielt er diesen mit den leisen Worten zurück: „Wer ist die Dame? Raunthal? Von Raunthal? Die Schildpattgarnitur an Handschuh- und Chemisettenknöpfen, Haarnadeln und langstieliger Lorgnette – sehr distinguiert. Nur Raunthal? Na, in der Sommerfrische mimmt man’s nicht so genau!“

Schersen hob den Kopf und warf ihm einen Blick eiskalter Befremdung zu. Stöckeis Redestrom ging aber unbekümmert weiter. „Was gieb’s hier überhaupt für Gesellschaft? Damen mit zahllosen Hänschen und Fränzchen, junge Mädchen, die Eisserviettchen für ihre Ausstattung sticken und es höchstens zu einem Bonbonmann bringen! Ein Ingenieur, Vorläufer einer Kleinbahn, der den ganzen Tag mit den Staren um die Wette ausmißt, und sein Antipode, ein Operpostsekretär, der gewiß nur zur Kur hierher gegangen ist, weil hier noch die gelbe Postkutsche floriert. Dann der Bürgermeister von irgend einem Mottenburg, nervös wegen Kanalisation, für die er die Mittel nicht aufbringen kann, da macht er eine Badereise. Verblüffender Ausweg, he? Ein Referendar, direkter Abkömmling der alten Deutschen, die immer noch eins tranken. Endlich ein Musikdirektor, der Stimmung sucht zu seiner Oper ‚Barbarossas Erwachen‘, die natürlich einaktig sein muß und in deren Vorspiel natürlich ein Solo hinter dem Vorhang gesungen wird. Das Vorspiel soll das Sängerfest eröffnen, das nächstens auf dem Kyffhäuser stattfinden wird, zum Besten des Denkmals.“ Stöckei bemerkte endlich den geistesabwesenden Ausdruck in Schersens Gesicht und wechselte das Thema.

Mit dem Stock, der wie eine altdeutsche Keule geformt und hohl und leicht wie eine Attrape war, deutete er in die Weite. „Sehen Sie dort die Renaissancegiebel über die alten Parkbäume ragen? Das ist das Schlößchen des Barons, der damals mit Gemahlin in Ihrer Garnison, Dingsda, Ihren Kommandeur besuchte, den Grafen –“

Ehe er den Namen nennen konnte, fiel Schersen ein, fliegendes Rot auf den Wangen: „Und hier ist die Kastanienvilla unserer Damen.“ Er mochte den Namen nicht aussprechen hören, der auf Stöckeis Lippen schwebte.

Abgespannt, nervös wie alle fein angelegten Naturen, wenn sie das Geschwätz der Alltagsmenschen haben ertragen müssen, warf er sich nach dem Abschied von der kleinen Gesellschaft in seinem Zimmer auf die Chaiselongue.

Aber er fand keine Ruhe. Die Gestalt der Gräfin, an die er seit gestern unaufhörlich gemahnt wurde, tauchte wieder vor ihm auf. Er meinte die klugen grauen Augen forschend auf sich gerichtet zu sehen, das leise dunkle Lachen zu hören wie damals, da er, der Adjutant ihres Gemahls, täglich an ihrer Seite auf flüchtigem Pferd durch Wald und Feld jagte. Himmlische Zeit! Immer überfiel ihn eine Art Heimweh, wenn er jener Tage gedachte. Der Oberst, Graf Tölz, war ein älterer Herr von zu viel Geschmack, um Eifersucht zu zeigen, und von zu viel Menschenkenntnis, um nicht zu wissen, daß seine Gemahlin eine vollkommene Dame war, die über Barrieren nur mit ihrem arabischen Schimmel hinwegsetzte. Nein, Schersen hatte nichts auf dem Gewissen gegen den gütigen Mann, der ihm mehr väterlicher Freund als Vorgesetzter war. Nur – das Bewußtsein, daß sein Blick die Macht besaß, die großen grauen Augensterne im Theater, Konzertsaal über Hunderte von Menschen hinweg, auf sich zu ziehen; daß sie im Dahinfliegen, sei es im Tanz, sei es im wilden Ritt, beide den einen Gedanken hegten: so aller Bande ledig vereint in die Ewigkeit hinein – Seligkeit! Ein einziges Mal beging er eine Unbesonnenheit – bei jenem Whist. Da schlug die Stunde, in der die Geister verschwinden mußten, die keine Berechtigung zum Dasein hatten.

Seine weichen Züge schärften sich in der Pein dieser Erinnerung. Er hatte es gestern an Holls zur Schau getragener Unbefangenheit gemerkt, daß dieser den Vorgang damals richtig gedeutet hatte. Er war ja bei jenem Robber der Partner des Obersten gewesen gegen die Gräfin und ihn. Sie spielte wagehalsig ihre Coeurdame aus, er warf tollkühn statt einer nichtssagenden Karte den Buben der Dame zu Füßen. Er bereute es sofort. Eine kleine Pause entstand; Holl saß wie eine Bronzestatue, die nicht sieht und hört. Die Gräfin schien den Atem anzuhalten. Dann sagte der Oberst mit ruhigem Lächeln: „Aber, lieber Schersen, Sie wissen doch, daß der König noch da ist.“ Und er nahm mit demselben den Stich an sich. Weiter fiel kein Wort. Jedoch für Schersen verstand sich von selbst, daß er am andern Tag um Urlaub bat. Die Gräfin sah er nicht beim Abschiedsbesuch. Als er zurückkehrte, weilte sie auf dem Gut ihrer Eltern, um sich von der Wintersaison zu erholen. Im Herbst forderte der Oberst wegen eines Lungenleidens seinen Abschied, und siedelte nach Aegypten über. Dort war er gestorben, und seine Gemahlin war unter die Reisenden gegangen. In den Kreisen der Weltbummler kannte man die Gräfin Swanta Tölz. Mit dem einen hatte sie Kastanien in der heißen Asche des Vesuvs geröstet, der andere war ihr in der Wüste begegnet und durfte unter dem Zelt am niedrigen arabischen Tischchen den Mokka nehmen, den sie bereitete. Nach Deutschland kam sie nicht wieder.

Der Schleier, der immer über Schersens Züge gebreitet zu sein schien, sie so anziehend machte, enthüllte sich jetzt in der Einsamkeit als ein sonst streng verborgen gehaltener Leidenszug. Er hatte seitdem kein tieferes Interesse mehr für eine Frau zu fassen vermocht. All den späteren kleinen Episoden fehlte die wahre innere Zuneigung. Ein Zeitvertreib war ihm das leichte Liebesspiel wie andern die feine Cigarre, die Roulette.

Seine weiße Hand strich über die Stirn, als wollte sie alle Erinnerungen an diese Nichtigkeiten verwischen. Hier endlich vergönnte ihm einmal wieder das Geschick, aus dem Alltagstrott herauszukommen, sein Talent und Wesen an ein gleichgestimmtes dichterisches Frauengemüt anzuschließen. Gabriele! Er nannte sie für sich nur noch bei diesem Namen. Eine anders geartete, aber nicht minder edle Natur als jene, der seine erste Liebe gehörte! Und eine eigentümliche Schönheit. Wie fein war der Fuß, der über den mit Maßliebchen und Wegerich gepolsterten Wiesenpfad

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