Seite:Die Gartenlaube (1894) 763.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

nicht mehr den Eindruck des Fremden, Nachgeahmten macht, daß es uns vertraut berührt wie etwas aus unseren eigenen Seelen Hervorgewachsenes. Ist so meines Erachtens das Wallotsche Werk auf der einen Seite als ein Markstein in der Geschichte unserer Baukunst zu bezeichnen, so möchte ich anderseits doch hinzufügen, daß der Gedanke, der in diesem Haus verkörpert ist, einen mächtigeren Ausdruck hätte finden können. Wenn man in Florenz die Via Tornabuoni hinaufgeht und plötzlich das ernste Gemäuer des Palazzo Strozzi erblickt, da bleibt man betroffen stehen und unwillkürlich drängt es sich auf die Lippen: „Donnerwetter – Was müssen da für Menschen gewohnt haben!“ In solch ein „Donnerwetter!“ nun wird kaum jemand ausbrechen, wenn er vor das neue Reichstagshaus tritt. Man sagt wohl: „Ah, wie schön!“ und vertieft sich dann mit Behagen in das reizvolle Linienspiel, aber man denkt kaum an das Reich, das mit Blut und Eisen zusammengeschweißt wurde. Trotzdem dürfen wir uns des Schönen und Guten freuen, das der schaffende Geist hier bietet, und wenn wir das riesige Haus betreten, werden wir vielleicht viel entdecken, was uns damit versöhnt, daß es nicht deutsche Kraft ist, die uns draußen mit starken Armen empfängt.

Haupteingang auf der Ostseite.

Man kann den Charakter der Räumlichkeiten des neuen Reichstagshauses kaum besser bezeichnen als mit dem Worte „anheimelnd“. Dieses Innere erscheint mir eigentümlicher, besonderer als das Aeußere. Ich weiß nicht, wie sich die Akustik des großen Saales, die Ventilation und so weiter bewähren wird, und ich bemerke gleich, daß die große Glaskuppel, die sich über dem Oberlicht des Sitzungssaales erhebt, ästhetisch nicht günstig wirkt. Was jedoch das Innere des kolossalen Gebäudes zu etwas ganz Einzigem macht, das ist der Geist deutscher Traulichkeit, der in diesen Räumen webt, und der in der Hauptsache dadurch bedingt wird, daß bei der inneren Ausstattung vorwiegend die Holzarchitektur zur Geltung kam. Sonst staunt man in derartigen Monumentalbauten wohl die Pracht und den Prunk an, aber man fühlt etwas wie Frost, man möchte nicht darin wohnen. Wie anders im neuen Reichstagshause! Der Herr Reichskanzler möge es mir verzeihen, aber ich habe mich vor seinen Arbeitstisch gesetzt und gedacht, wie hübsch sich hier eine Novelle schreiben ließe. Und in der Bibliothek war mir, als müßte jeden Augenblick ein blondes Evchen oder Gretchen die Wendeltreppe herabkommen mit Kaffeetassen und süßem altdeutschen Kuchen und jenem altdeutschen Herzenslächeln, das noch tausendmal süßer ist ...

Aber wir wollen nicht planlos von einem zum andern schweifen, sondern den Leser bedächtig führen – halb treuer Eckart und halb Bädeker. Wie schon der erwähnte Artikel der „Gartenlaube“ näher ausgeführt hat, ist das ganze Gebäude ein Rechteck mit vier, durch reichen bildnerischen Schmuck angenehm ins Auge fallenden Ecktürmen und vier Portalen nach Nord, Süd, Ost und West. Wir haben uns der Westseite genähert, der Hauptfassade, sind die mächtigen Granitstufen emporgestiegen und treten nun unter den breitausladenden, auf sechs schlanken Säulen ruhenden Flachgiebel, über dem uns die Germania von Reinhold Begas begrüßt hat. Wir öffnen die Mittelthür und sind sofort in dem Reich der Abgeordneten, das bis zu dem im Mittelpunkt des Hauses befindlichen Sitzungssaal geht. Die entgegengesetzte, nach Osten gewendete Seite ist das Heim der Regierung, des Bundesrats, des Präsidiums, und vor dem Portale dieser Fassade befindet sich eine „Unterfahrt“, die den „hohen,“ „höchsten“ und „allerhöchsten“ Herrschaften ein behagliches Verlassen ihrer Wagen gestattet. Einen Blick in die Vorhalle dieses Teils bietet das nebenstehende Bild.

Im Bücherspeicher.

Durch das Westportal gelangen wir zunächst in eine von einer Kuppel überwölbte Rotunde, an die sich nach links und rechts, fast der ganzen Länge des Baues entsprechend, zwei Hallen anschließen. Die Rotunde ist auf jeder Seite von ihnen nur durch je 2 Säulenpaare geschieden, so daß wir eigentlich ein großes Ganzes vor uns haben, die 96 Meter lange, 13 Meter breite und fast 18 Meter hohe „Wandelhalle“ in der sich die Volksvertreter in mehr oder weniger gemütlichem Gespräch ergehen werden. Einen Eindruck von dieser Halle gewährt das Bild auf Seite 764. Mit ihren Sandsteinsäulen und Pilastern, ihrem Marmorfußboden, ihrer hellen, nur durch Werke der Plastik geschmückten Architektur bildet sie den Uebergang vom Aeußern zum Innern, zu den intimeren Räumen des Hauses. Wenden wir uns links, so sehen wir hohe Flügelthüren, die nach dem Postbureau, nach dem Lese- und Schreibsaal der Abgeordneten führen. Die reizvolle Holzarchitektur, die in den zuletzt genannten Räumen zur Anwendung kam, zeigt unser Bild auf Seite 765, das eine Partie des Lesesaales vorführt. Rechts vom Eingang befindet sich, dem großen Lesesaal entsprechend, die Restauration und daran anschließend, gleich dem achteckigen Schreibsaal im Eckturme untergebracht, ein Kneipzimmer. Während Lese- und Schreibsaal reich gegliederte Holzdecken haben, sind Restauration und Kneipzimmer überwölbt. Zu dem Getäfel dieser Räume stimmt aufs

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_763.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)