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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Es sieht dem Christdorn ähnlich, daß er hier sich erbarmungsvoll ansiedelte.“ Und mit einem Aufleuchten gingen ihre Augen in die Weite. „Dort arbeitet der Bauer auf seinem freien Felde; kein Büttel beruft ihn mehr zum Frondienst. Auf seinem eigenen Grund und Boden ist er der Herr. Gleiches Recht gilt für alle. Die Nachkommen erreichten, was die Vorfahren forderten. Auch hier hat die Zeit Rosen gebracht.“

„Erst nach vierthalb hundert Jahren!“ mäkelte Ilse. „Darüber können Sie übrigens keine Novelle schreiben. Nur Bauern und nicht ein bißchen Liebe!“

„Die ist immer und überall dabei gewesen,“ entgegnete Gabriele, in Träumerei versinkend.

Um die grauen Mauern, schienen Fäden zu weben, die ihre Seele umspannen; sie hatte wie immer an solchen Stätten das Gefühl, ein unsichtbares Etwas suche Verständigung mit ihr. „Sehen Sie das Fensterchen droben im spitzen Giebel?“ fuhr sie leise fort. „Dort hat vielleicht des Turmwächters Töchterlein hinausgeschaut, mit glänzenden Augen an dem Tage, da der Volksheld Thomas Münzer unter seiner wallenden Fahne, die den Regenbogen führte, heranzog, um sich den anderen Bauern anzuschließen; unter heißem Herzklopfen, als der düstere Schwärmer mit der traurigen Miene, die er allein für das Elend, der Welt geziemend fand, hier vorüber den Schlachtberg hinaufstieg, als seine stattliche Gestalt im hellen Koller von Elenhaut aus der dunklen, Sensen und Dreschflegel tragenden Schar hervorleuchtete. Und sorgenvoll stützte sich wohl ihr blasses Köpfchen in dem altdeutschen Häubchen an den kleinen Fensterpfeiler, da die bewaffneten Kriegsvölker enger und enger sich um den Haufen der Bauern schlossen. Beten und Schluchzen mag die jetzt öde Stube erfüllt haben, während auf dem Schlachtberg droben die Feldschlangen die Wagenburg der Aufständischen zerschmetterten. Dann sah sie, wie Blutbäche herunterrieselten, vernahm, daß der Held ihrer Träume gefangen war, und endlich stürmten die Söldner dort die zerfallene Wendelstiege empor. Da rettete sie sich durch einen Sprung aus dem Fensterchen in den Tod.“

„Ach nein,“ rief Ilse, „lieber in die Arme eines hübschen Söldners, der sie schützte und heiratete!“

Ein unterdrücktes Lachen brach hinter dem Rosenbusch hervor. Zugleich schnellte der blonde Herr von der Veranda empor.

Auch der schwarzbärtige tauchte auf. Die zwei Reihen weißer Zähne zwischen dem Vollbart verrieten den Lacher. Aber rasch gefaßt, den Hut in der Hand, redete er die sich ebenfalls erhebenden Damen an: „Verzeihung, wenn wir stören; und gestatten die Damen, daß wir uns vorstellen!“ Ein Neigen des dunklen Kopfes mit dem kurzgeschorenen dichten Haar. „Hauptmann Holl.“

„Premierlieutenant von Schersen,“ nannte sich der Jüngere mit einer Verbeugung, die, obgleich streng salonmäßig, doch eine besonders ehrerbietige Huldigung für Gabriele, ausdrückte.

Sie nahm mit höflichem Gruß die Vorstellung entgegen. Ilses Hut nickte kurz. Sie wandte dem Hauptmann Holl, diesem Herrn, der sich heute schon zum zweitenmal so etwas wie eine Kritik gegen sie erlaubte, die Schulter zu, die sich, wie er beobachtete, reizend unter der rotseidenen Bluse abzeichnete, und einen kindlich neugierigen Blick auf das Skizzenbuch in Schersens Hand werfend, fragte sie: „Haben Sie den Schauplatz der Novelle gezeichnet, die Sie mit anhörten?“

Er zögerte, aber sie streckte die Hand aus; es wäre unritterlich gewesen, ihr das Buch zu verweigern, er überließ es ihr.

„Das Frankenhaus!“ rief sie. „Und – da schaut die Türmerin aus dem Fenster. Ah!“ – es klang wie ein kleiner Schrei – „das sind Sie, Gabriele! Wie sehnsüchtig Sie aussehen!“

„Noch einmal: Verzeihung!“ bat Schersen schnell. „Es war so stimmungsvoll, wie Sie den alten Turm belebten. Ich sah Ihr Profil durch die von Herrn Hauptmann Holl zurückgebogenen Rosenzweige – ich konnte nicht widerstehen.“

Gabriele schaute auf die kleine anmutige Zeichnung und schwieg überrascht. Holl behauptetete indessen mit gelassenem Lächeln den Platz im Hintergrund, auf den ihn Ilse verwiesen hatte. Er sah und hörte alles. Die schöne Linie von dem blond umkräuselten Nacken nach der trotzig ihm zugekehrten Schulter entging ihm so wenig wie die Erregung in Schersens Stimme, das Staunen der Dame in Grau über ihr Bild. Und er bemerkte auch zuerst, daß ein einzelnes Blatt aus dem Skizzenbuch flatterte. Er bückte sich danach, reichte es aber sofort Schersen hin, während er scheinbar gleichgültig darüber hinwegsah.

Ilse gab das Skizzenbuch zurück und reckte nun wieder ihr Hälschen, um das einzelne Blatt zu betrachten, auf dem eine Frau, auf morgenländische Weise in Schleier gehüllt, dargestellt war; neben ihr die Umrisse eines Kamels mit reichem Sattelzeug, im Hintergründe Pyramiden.

„Wer ist das? Nicht schön, aber riesig interessant! Eine Odaliske?“

Gabriele meinte einen Ausdruck von Befangenheit über Schersens Gesicht gleiten zu sehen. „Der Haltung nach ist es eine Dame der Gesellschaft, und zwar der besten,“ sagte sie.

„Sie haben richtig geraten,“ erwiderte Schersen, das Blatt wieder einfügend, während das leise Rot auf seinen Wangen langsam sich verflüchtigte. „Es ist die Gemahlin meines früheren Kommandeurs, die mit ihrem leidenden Gatten nach Kairo übersiedelte. Ein Phantasiestück,“ erklärte er, zu Holl gewandt, „ich habe die Gräfin nicht wiedergesehen.“

„Ich ebenfalls nicht,“ antwortete Holl leichthin. „Ich glaube überhaupt nicht seit dem Whistabend –“

Schersens Fingern entglitt der goldene Stift, der eine neunzackige Grafenkrone trug – Holl schwieg.

Die Sonne war hinter den Bergen versunken. Gabriele wandte sich zur Heimkehr. Holl faßte nach dem Hut, um sich zu verabschieden. Aber Schersen vereitelte seine Absicht.

„Gestatten Sie,“ sagte er, „daß wir Sie begleiten, gnädig –“ sein Blick flog rasch und doch prüfend über Gabrieles Gesicht, und bevor sie den ihr zukommenden Titel nennen konnte, vollendete er bestimmt: „gnädiges Fräulein.“

Sie fand dem respektvollen Ton gegenüber keine Ablehnung seiner Bitte, und er ging mit ihr voraus, geschmeidig sich ihrem ruhigen Wandeln anfügend.

In einer halblauten verbindlichen Weise, die beide isolierte und doch jede ungeziemende Vertraulichkeit ausschloß, sprach er: „Ich vermute, gnädiges Fräulein sind ebenso wie ich durch einen Zufall hierher verschlagen worden. Ich gedachte einen Pfingstausflug nach dem Harz zu unternehmen. Aber auf dem Bahnhof in Sangerhausen entdeckte mich Hauptmann Holl, mit dem ich früher in demselben Regiment stand und der mich nun überredete, ihn hierher zu begleiten; die Gegend sei eine noch unausgebeutete Fundgrube für Maler, erklärte er. Ich gestehe, Stadt und Umgebung erschienen mir zuerst alltäglich“ – er lächelte und setzte leiser hinzu: „Aber eine einzige Begegnung genügt manchmal, auch die einfachste Landschaft mit dem Schimmer echter Poesie zu verklären. Werden die Damen länger hier bleiben?“

„Es ist noch, unbestimmt,“ antwortete Gabriele. „Meine junge Schutzbefohlene wird baden. Mich zog die reiche Vergangenheit her, deren Spuren diesem Stückchen Erde aufgeprägt sind, und die weltabgeschiedene Stille, die meine jenseit der Jugend liegenden Ansprüche befriedigt.“

Ein Lächeln um seine Lippen erhob Einspruch gegen dieses „jenseit der Jugend“. Sie verstand und verneinte durch eine leise Bewegung des Kopfes.

„O, man glaubt manchmal die Jugend hinter sich zu haben,“ plauderte er weiter, mit einem Anflug von Keckheit, der doch nicht dreist berührte, „und dann kommt irgend ein Ereignis, das uns fühlen läßt: wir stehen noch mitten darin.“

Ihre Augen schweiften zurück nach dem Christdorn mit seinem versunkenen Kreuz. „Oder vielmehr wir gewahren, daß die Schmerzen, welche die Jugend uns brachte, beim leisesten Anlaß wieder erwachen,“ sagte sie langsam.

„Müssen es gerade die Schmerzen der Jugend sein, die wiederkehren?“ fragte er. „Warum nicht auch ihr Glück? Aus Ihrem schönen Wort: ,Zeit bringt Rosen’ wehte ein frischer Duft wie die Ahnung einer Freude mich an. Und ich lege Wert auf solche Vorgefühle.“

Gabriele widersprach nicht mehr. Die Anschauungen ihres Begleiters dünkten sie zwar sehr jugendlich; aber seine Stimme war so gedämpft, sein Blick so sanft verschleiert, als seien sie der Elegie des Abendbildes und ihren eigenen in stilles Sinnen versinkenden Empfindungen angepaßt.

Von solchem Sinnen wußte das folgende Paar nichts. Eine kleine Strecke blieben beide stumm. Holls wohlgeformter Fuß schritt so gleichmäßig über das unter jedem Tritt gleitende Geröll wie über den festgestampften Boden des Exerzierplatzes. Ilse sprang, die dichten blonden Brauen zusammengezogen, bald hastend, bald zaudernd die ausgetretenen Stufen hinab.

Seinen langen Schnauzbart zwirbelnd, sah er belustigt in das

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