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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Zeit bringt Rosen.
Novelle von Stefanie Keyser.

Sommerfrische! Badereise! Die Worte, die alljährlich mit der beginnenden schönen Jahreszeit auftauchen, gingen einmal wieder durch das Land. Wie die anderen Kur- und Badeorte war auch die Stadt Frankenhausen um die Pfingstzeit ihrer Gäste gewärtig, die von den sprudelnden Salzquellen Gesundheit, von der reinen Luft Stärkung erhofften oder auf Schusters und anderen Rappen, auf Zweirad und Dreirad dem im benachbarten Waldgebirge thronenden Kyffhäuser zuzogen.

In einem der freundlichen Landhäuser, die aus den engen Straßen hinausgeschwärmt zu sein schienen in die Gärten, waren zwei Damen angelangt.

Auf dem Sofatisch des gemeinschaftlichen Salons, den die Schlafzimmer zu beiden Seiten begrenzten, lag das Fremdenbuch aufgeschlagen. „Fräulein Gabriele Raunthal,“ trug die Aeltere, eine hohe schlanke Gestalt, sich ein. Als sie den Kopf über die Schrift neigte, schimmerten ein paar Silberfäden aus dem dunklen Haargewinde; aber die zarte elfenbeinweiße Hautfarbe ließ das edelgeschnittene Gesicht jung erscheinen, die klaren braunen Augen strahlten in einem Glanz, von dem Jahre nichts zu verwischen vermögen.

Die andere, die mit rosigen Wangen, Purpurlippen und dicken goldblonden Locken über der Stirn in Jugendblüte förmlich zu glühen schien, streute achtlos die langen Handschuhe, den Hut mit der dicken Guirlande, das elegante Reisetäschchen über Sofa und Sessel und schwang sich dann ausgelassen auf die Fensterbank. Die langweiligen Tanten, die unter den Kastanien des Vorgartens Kaffee tranken, fanden das wohl unpassend? Nun erst recht! Sie begann mit dem Fächer aus Stahlfiligran der nebst Flacon und winziger Uhr an der Chatelaine ihres Gürtels hing, herausfordernd zu wehen, während ihre blauen Augen über den Damenkreis hinwegglitten. Von den Zweigen der blühenden Kastanien wie von weißen und roten Riesensträußen eingerahmt, erblickte sie die Veranda des Nachbarhauses. Zwei Herren saßen dort. Der tief brünette etwas ältere sah von der Zeitung, die er in der Hand hielt, auf und wandte das energisch geschnittene Gesicht mit dem kurz gehaltenen schwarzen Vollbart herüber. Ein Blick aus dunklen Augen traf sie, maß sie kurz auf ihrem ungewöhnlichen Platz; spöttisches Erstaunen meinte sie darin zu lesen. Was unterstand sich dieser Herr? Aber unter dem Blick stieg doch ein heißes Rot ihr bis in die Stirn, und plötzlich glitt sie von der Fensterbrüstung herab und zog sich zurück.

Sie nahm die Feder, machte einen Klex in das Fremdenbuch und schrieb: „Ilse Großheim.“

„Wer mögen die beiden da drüben sein?“ fragte sie dann ihre Gefährtin, die das kleine Cylinderbureau mit Schreibgerät, aus schönen Versteinerungen gearbeitet, ausstattete, das schwarz gebundene Tagebuch in einem der Fächer verschloß und auf dem Tischchen am Fenster Nähkästchen und Stricketui ordnete.

Gabriele sah flüchtig hinüber. Der Schwarzbärtige hatte sich wieder hinter seiner Zeitung verschanzt.

Jetzt wandte der andere mit dem so seltenen aschblonden Haar, über dem es wie lichter Staub zu liegen schien, den Kopf herauf. Sie schaute in tiefe Augensterne, die sich mit einem seltsam suchenden und doch träumerischen Ausdruck auf sie hefteten.

Auch sie trat zurück. Dann sagte sie: „Der Brünette kann seiner strammen Haltung nach Offizier sein. Der andere wohl auch,“ setzte sie zögernd hinzu. „Nur in den Augen ist ein Ausdruck, der eher auf einen Künstler schließen läßt. – Aber Sie haben ja noch gar nicht ausgepackt! Ich wollte Ihnen eigentlich einen kleinen Spaziergang vorschlagen. Der Abend ist schön und Frankenhausen eine alte Stadt; die erscheint immer am stimmungsvollsten von der untergehenden Sonne beleuchtet.“

Ilse griff sofort nach ihrem Strohhut. „Natürlich begleite ich Sie. Zum Auspacken habe ich jetzt keine Lust. Später! Wo ist meine Hutnadel? Die mit der goldenen Hand? Na, lassen wir sie! Morgen wird sie schon wieder zum Vorschein kommen.“ Sie huschte hinaus. Ein verstohlener Blick flog zu der benachbarten Veranda hinüber; sie war leer.

Die beiden Damen bogen in die Stadt ein. Gabriele entdeckte hinter Kugelakazien graues Bauwerk; überall zwischen Schattentüchern und Kübelbäumchen lugte die alte Stadt mit spitzen Dächern und vielen kleinen Fenstern heraus.

„Suchen Sie einen Stoff für Ihre Feder?“ forschte Ilse.

„Meine Stoffe suche ich nicht,“ antwortete Gabriele. „Ich finde sie zufällig wie vierblätterigen Klee.“

„Was soll’s werden? Kulturgeschichtliche Novelle oder Märchen?“

„Ich weiß es noch nicht,“ sagte Gabriele, „bin ja eigentlich zufällig zu dieser Beschäftigung gekommen. Meine kleinen Schülerinnen verfolgten einmal eine Kröte, und ich verschaffte dem schuldlosen Tier Respekt durch Erzählen der aus deutscher Vorzeit stammenden Sage, daß es Geld ins Haus bringe. Es ist ein liebenswürdiger Zug in dem Aberglauben des Heidentums, daß er häßliche Kreaturen durch angedichtete geheimnisvolle Gaben schützt. Nun, der Herausgeber einer Jugendschrift las das Märchen und nahm es mir weg. Das war der Anfang.“

„Unfaßbar!“ murmelte Ilse. „Sich für solche ungezogene Rangen zu plagen!“

„Meine armen kleinen Mädchen in den geflickten verblichenen Röckchen, die so fleißig stricken!“ verteidigte Gabriele ihre Pfleglinge. Sie meinte, zu sehen, wie all die Kinderaugen leuchteten, als sie versprach, aus der Sommerfrische ein neues Märchen mitzubringen.

Ilse schüttelte den Kopf. „Ich möchte wissen, was Ihr seliger Vater zu Ihrem Leben sagen würde. Ein berühmter Professor, und die Tochter Armenlehrerin aus Liebhaberei!“

„O, in dessen Geist handle ich gerade,“ entgegnete Gabriele: „Dienen soll der Mensch, lautete sein Wahlspruch, dem Nächsten, dem großen Ganzen, erhabenen Ideen. Und kleinlich nannte er es, zu wägen, welche Arbeit die höhere sei, wenn ihre Früchte nur der Menschheit nützten. In der Amalienschule bedurfte man noch einer Lehrerin, und da keine geldspendende Kröte das Stiftungskapital vergrößerte, trat ich als Hilfe ein.“

„Sehr edel.“ Ilse seufzte dazu, als möchte sie aus ihrer jungen glatten Haut herausfahren.

Sie waren in winklige Gäßchen geraten, die den Berg hinaufklommen, an den die Stadt sich lehnte. Auf einem Vorsprung ragte ein verwitterter Bau empor mit bröckelnden Mauern, zerfallenden Fenstern; zwischen wenigen Ziegeln starrten morsche Dachsparren heraus.

„Das alte Frankenhaus! Wie traurig und verlassen es da oben steht!“ sprach Gabriele und begann die nach der Ruine führenden Steinstufen zu ersteigen.

Ilse lachte. „Es muß etwas nur recht krumm und schief sein, dann gefällt’s Ihnen. Da hinauf klettert gewiß außer uns kein Mensch.“

Ueber die von der Zeit weggeschliffene Ringmauer schritten sie hinüber im den kleinen ehemaligen Vorhof des Burggebäudes. Glatter Bergrasen bedeckte ihn. Ein großer wilder Rosenstrauch von der edlen Art, an der auch jedes grüne Blättchen duftet und die den Namen Christdorn trägt, nickte mit unzähligen Knospen leise im Abendwind. Gabriele ließ sich in seinem Schatten nieder. Sie fügte sich der melancholischen Stätte harmonisch ein mit ihrem grauen Sommeranzug, dem trotz der lichten Farbe etwas wie von lange getragener Trauer anhaftete, mit dem breiten Saume des Gazeschleiers und den schwarz genähten Handschuhen. Einzig glänzte ein stählernes Steinhämmerchen, wie es wohl Geologen führen; es diente als Griff des Schirmes.

„Kein Röschen ist aufgeblüht,“ schmollte Ilse, neben Gabriele Platz nehmend. „Nicht einmal ein Sträußchen kann man sich anstecken.“

„Geduld! Zeit bringt Rosen!“ erwiderte Gabriele. „Das Wort hat mir zuerst mein Großmütterchen in der Ergebung der guten alten Zeit gesagt, und ich habe seinen tiefen Sinn schätzen gelernt als Trost bei jedem höheren Ringen und Streben, trotz allem, was mir vom Schicksal zugeteilt wurde,“ schloß sie mit sinkendem Ton. Dann bog sie doch, auf den Wunsch des jungen Mädchens eingehend, die Zweige auseinander, um nach einer aufbrechenden Knospe zu suchen. Ein fast versunkenes Steinkreuz kam zum Vorschein.

„Ein Blutkreuz!“ rief sie, Halme und Moos davon ablesend. „Da ist die eingegrabene Heugabel, da die Axt! Als Warnungszeichen stellte man diese Kreuze an den Stätten auf, wo im Bauernkrieg die Aufrührer gerichtet wurden.“ Sie zog, von plötzlichem Schauder geschüttelt, das schwarze Spitzentuch fester um die Schultern. Dann strich ihre feine Hand wie liebkosend über die Knospen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_751.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)