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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

dankte sehr freundlich und fing ein Gespräch an. Wo ich hin wolle? Wo ich her käme? Sie habe ja gar nicht gesehen, daß ich eingestiegen sei.

Ich antwortete kurz: „Nach Thüringen.“

„Nun, da reisen wir zusammen“ meinte sie, „ich will heim, um meine Aussteuer zu nähen; ich war bis vor kurzem in Stellung in Hamburg, und zu Weihnachten haben wir Hochzeit. Mein Vater ist Kantor in Quersleben.“

„Ich will auch in die Gegend,“ sagte ich, „Quersleben ist meine Endstation. Wenn Sie erlauben, machen wir die Reise miteinander.“ Sie nickte, wickelte ein Butterbrot aus und begann zu essen. „Darf ich Ihnen anbieten?“ fragte sie.

„Danke sehr, ich nehm’ es sehr gern an!“ Und ich aß mit der kleinen Kantorstochter Hamburger Schwarzbrotschnitten, denn ich hatte seit Mittag nichts genossen. Sie thaten mir wohl, diese Butterbrote und diese Freundlichkeit.

„Man bekommt gleich andern Mut,“ bemerkte die Kleine, „wenn man satt ist,“ und bot mir nochmals an. Leider glaubte sie nun das Recht zu haben, mich etwas auszufragen, begriff aber sehr bald, daß ich das nicht liebte, und beruhigte sich mit den Worten: „Sie wollen wahrscheinlich aufs Amt in Langenwalde, die Inspektorsfrau hat ja immer solche, die die Wirtschast lernen wollen.“

Als ich schwieg, schwieg sie auch, und dann schlief sie abermals ein und träumte von ihrem Schatz, denn sie lächelke wieder im Schlaf. Das Treiben auf dem Bahnhof in Magdeburg, wo wir übrigens eine Stunde zu warten hatten, verwirrte mich etwas; ich war ja, wie gesagt, Neuling im Reisen. Meine resolute Begleiterin aber verschaffte mir die Fahrkarte und sorgte, daß wir Kaffee bekamen, und um halb zwei Uhr fuhren wir glücklich wieder weiter. Um Neun früh sollten wir in Quersleben sein.

„Ich freue mich auf den Schnee in den Bergen,“ sagte die Kleine, „weil’s dann gar so gemütlich zu Hause ist. Und meine Mutter, die ist so glücklich, daß sie mich noch ein paar Wochen hat, ehe ich heirate. Bin so zwar auch nicht bei ihr gewesen, unsereiner kommt ja schon aus dem Hause, sobald er vierzehn ist, aber so vom Ladentisch weg hätt’ ich nicht mögen heiraten, wenn man seine Heimat noch hat.“ Ich hörte ihr zu mit brennenden Augen.

„Sie haben doch Ihre Eltern noch?' fragte sie.

„Nein mein Vater ist tot.“

„Ach, das thut mir leid! Aber die Mutter?“

Es mochte beim Zurückdrängen des Schluchzens ein eigentümlicher Laut aus meiner Kehle gekommen sein, denn sie fuhr erschrocken fort: „Gott, nun weinen Sie! Aber Sie müssen nicht weinen, mein Vater sagt immer, über Waisenkinder hält der liebe Gott einen erwa großen Parapluie.“

Ich mußte lachen bei diesem Gleichnis, und doch saßen die Thränen mir bedenklich nahe. Und nun kam die kleine Geschwätzige auf ihren Zukünftigen. „Nein, so ein braver Mensch, und so gar nicht oben aus und so sparsam, und wie er seine Sache versteht! In der ganzen Steinstraße hat keiner so schönen Reis und so delikaten Käse wie er, weil er’s Einkaufen versteht, wissen Sie. Und wie er die Kunden zu behandeln weiß, alle Köchinnen aus der Straße kommen nur in unsern Laden. Er ist man ein ‚büschen‘ klein,“ schaltete sie auf gut hamburgisch ein, „aber sie kommen doch. Nun und ich versteh’ ja auch mit dem Publikwm umzugehen und ob man nu Kaffeebohnen verkauft oder Weißwaren – Handel ist Handel, und wir werden schon machen, daß wir vorwärts kommen und daß wir ’mal auf unsere alten Tage in Blankenese oder da herum ein eigenes Häuschen haben, wo wir dann vor der Thür sitzen und uns ausruhen.“

Mir that die harmlose Plauderei wohl, nichts erfrischt so sehr, als wenn man im eigenen Elend sieht, daß doch noch Glück in der Welt ist; es giebt Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm.

Und die Nacht verging, und der kalte weiße Wintermorgen fand uns schon auf der schmalspurigen Zweigbahn, die in die Berge führt. Nie im Leben hat mich so gefroren wie in dem Wagen mit den vereisten Fensterscheiben in deren Eisblumen meine Reisegefährtin ein paar winzige Löcher gehaucht hatte, durch die wir die hohen weißen Berge sehen konnten.

„Ja, hier ist’s freilich kälter wie dort unten,“ meinte die Kleine, „aber ’s ist nicht mehr weit, nur noch zwei Stationen. Sie haben sich aber auch gar so wenig warm angezogen für solche Reise, und nun wollen Sie noch mit der Post weiter?“

„Ja“ sagte ich, „nach Langenwalde.“

„Na, ich dacht’s ja schon. Aber da können Sie ja das Stückchen mit Hübner seinen Milchschlitten fahren, ’s ist gar nicht weit – das sollt’ mich doch wundern, ob Hübner sein Milchschlitten nicht da ist,“ setzte sie hinzu.

Anneliese von Sternberg auf dem Milchschlitten! Ich mußte lächeln, aber, siehe da, es kam so. Als ich mit eisigen Füßen und vor Kälte blau auf dem Perron des Querslebener Bahnhofs stand, der so malerisch von hiwmelhohen Edeltannen umgeben ist, da sah ich einen wunderlich ungefügen Schlitten mit zwei übergroßen Pferden bespannt, und aus dem Bretterkasten des Gefährtes blickte wie Silber die blecherne Milchkannen. Meine Reisegefährtin, die von einer vor Freude weinenden einfachen Frau in Empfang genommen worden war, kam zurückgelaufen und rief: „Rasch, Fräulein, ich will Sie zu Hübners Schlitten bringen; er ist zufällig heute selber da, der Hübner, sagt meine Mutter.“

Eben wollte der große breitschultrige Mann wieder auf den primitiven Kutschersitz steigen, da rief die helle Mädchenstimme: „He, Herr Hübner, hier haben Sie noch einen Passagier! Das Fräulein möchte mit nach Langenwalbe!“

Er wandte sich erstaunt um, und ich blickte in ein ruhiges verständiges Männergesicht, von braunem Vollbart uwrahmt, in dem der Reif voreilig silberne Fäden gezogen hatte. „Eine Dame nach Langenwalde? Na, da soll sie aufsteigen, kommt schneller hin wie mit der Post. – Tag, Fräulein,“ wandte er sich an meine Beschützerin, „na, wieder daheim? Das ist ’ne Lust für Mütterchen – schön guten Tag, Frau Kantor!“

Ich saß bald neben ihm, und ohne zu fragen woher und wohin? trieb er die Pferde an und wir fuhren in die winterliche Pracht hinein. Ich hatte noch nie Berge, noch nie so stolzen Wald gesehen, und trotzdem mir die Seele im Leibe fror und die Augen im Kopfe schmerzten, starrte ich doch wie bezaubert in diese Märchenwelt. „Wie schön, ach wie schön!“ sagte ich.

„Ja, ’s ist schön hier, auch im Winter,“ gab er zu, „das macht der ewig grüne Tannenwald, Fräulein. – Aber friert Sie denn nicht?“ fuhr er fort. Und er griff hinter sich und holte die noch warme Pferdedecke vor und ich ließ mich einmummen in die groben Tücher mit ihrem scharfen Geruch und hätte dem Manne die Hand drücken mögen, so wohl that mir diese Freundlichkeit. Und weiter, am vereisten Bache entlang ging es, immer feierlicher wurde es, immer stolzer strebten die Bäume empor, und wie Friedensglocken läuteten die Schellen der dampfenden Pferde. Sonst kein Laut weit und breit, immer nur der Dreiklang – kling! kling! kling! Eine ungeheure Müdigkeit überfiel mich plötzlich, während wir langsam bergan fuhren. Vergebens suchte ich ihrer Herr zu werden. Kling, kling, kling – zitterte der Glockenton durch die dünne Luft; ich sah noch ein paarmal, mich zusammenraffend, die verschneiten Bäume, hörte noch die Glöckchen, fühlte noch das Gleiten des Schlittens, und dann wußte ich von nichts mehr. Ich schrak erst jäh empor durch ein heftiges Schütteln; jemand hatte mich an der Schulter gepackt.

„Jesus, Annelieseken – aber Kind, Kind, wachen Sie doch auf!“

Und wie ich ganz benommen umherblickte mit den weit geöffneten Augen, da sah ich ein schloßartiges Gebäude, vor dessen Freitreppe der Schlitten hielt, und sah Personen auf dieser Treppe, sah den großen Mann, der mich hergefahren und die Frau, die mich schüttelte, neben mir im tiefen Schnee stehen, und das war die Base.

„Base!“ schrie ich auf und wollte emporspringen aber die Glieder waren mir wie gelähmt.

„Mein Gott, Fräulein Anneliese,“ jammerte die alte Frau, „wo komme Sie denn bei so ’ner Kälte her? Nun haben Sie sicher etwas erfroreu!“

Und dann fühlte ich mich emporgehoben von den Armen des großen Mannes. „So,“ sagte er, „nun in die Stube, Base, zum Auftauen; wir haben vierzehn Grad Kälte heute früh, trotzdem die Sonne über Berg und Thal lacht.“ Und als sei ich leicht wie eine Feder, trug er mich die Treppe hinauf, vorbei an ein paar kichernden Mädchen und einer lächelnden rundlichen Frau. Die Base folgte uns, die Hände wiederholt zusammenschlagend vor Bestürzung, und die große behagliche Frau rief uns nach, sie werde gleich Thee besorgen, die Base solle mich nur derweil ins Bett stecken. So kam ich durch die Halle die breite Treppe hinauf, und dann wurde eine Thür geöffnet und ich stand auf meinen Füßen, die ich vor Kälte kaum fühlte.

(Fortsetzung folgt.)


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