Seite:Die Gartenlaube (1894) 742.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Bitte sehr,“ sagte ich zu dem Beamten, „immer der Reihe nach, ich habe Zeit.“

Ich kannzr die kleine Frau, die nun mit mir zurücktrat und ebenfalls noch warten mußte; es war die Totengräbersfrau von St. Marien. „Guten Tag, gnä’ Fräulein,“ sagte sie zutraulich, „waren schon früh heute morgen bei uns.“

„Jawohl, Frau Sietmann,“ entgegnete ich, und auf einmal kam wieder der Gedanke an den Fremden gewaltig über mich, und selbst den Schein der Neugierde auf mich nehmend, die ich doch schrecklich gewöhnlich finde, fuhr ich fort: „Da war heute noch jemand auf dem Friedhof, Frau Sietmann, so ein großer fremder junger Mann; kennen Sie ihn vielleicht? Er stand an Frau Wollmeyers Grab.“

Das runde Gesicht vor mir verzog sich zu einem Lächeln, einem schmunzelnden breiten Lächeln, das mir die Frau völlig fremd und unheimlich erscheinen ließ; ich hatte sie in ihrem Beruf als Totengräbersgattin und Leichenfrau zumeist nur mit dem entsprechend wehleidigen Gesichtsausdruck gesehen.

„Worüber lachen Sie denn um Gotteswillen?“ fragte ich.

„Ach, seien Sie nicht böse, gnä’ Fräulein, ’s ist nur, weil mich der fremde Herr heut früh genau so ausgefragt hat. Ich stand da vor unserem Häuschen und putzte die Fenster, man will’s doch ein bissel ordentlich haben – übermorgen wird der Herr Major von Tollen begraben und werden massenhaft vornehme Herrschaften folgen – da kommt der Fremde den Mittelweg herauf, geht aber bei mir vorüber. Na, denk’ ich, Guten Tag kann einer auch wohl sagen, er muß doch wissen, daß ich hierher gehöre – da kehrt er auf einmal um und kommt direktement auf mich los. ‚Sagen Sie mal, liebe Frau,‘ fragt er, ‚wer war denn die Dame dort unten auf dem Kirchhof?‘ ,Ja, weiß ich’s?‘ hab’ ich geantwortet, ,hier kommen viel Damens her; wie hat sie denn ausgesehen? Da sagt er: ,Klein brunett‘ – was ja wohl schwarz heißen soll – ‚Augen hat sie so groß, wie man sie selten sieht, und unterm Pelzmützchen haben ihr allenthalben die krausen Löckchen hervorgeguckt.‘ ,Ja, das könnt’ Fräulein von Tollen gewesen sein, was die Käthe ist,‘ hab’ ich geantwortet, ,aber die kommt doch heut nicht auf den Kirchhof, das arme Ding, die fürcht’ sich höchstens, weil sie ihren Papa übermorgen hinaustragen. Und da hab’ ich an Sie gedacht. ,Nee, warten Sie man, mein Herr, das wird Sternbergs Anneliese gewesen sein!‘ Und nun ist das so, Sie sagen’s ja eben selbst, gnä’ Fräulein, daß Sie es waren. ‚Sternbergs Anneliese?‘ hat er mir nachgesprochen, als besänne er sich auf etwas. Da sagte ich, nun ja, sie hat das Grab vom Papa besucht, kommt in Wind und Wetter und schaut nach ihres Vaters Ruhestätte, und was ihre Mutter ist, die hat sich ja den Wollmeyer genommen in zweiter Ehe.‘ Da hat er eine Tasche herausgezogen und hat mir einen Fünfzigmarkschein gegeben, fünfzig Mark, gnä’ Fräulein. ,So!‘ hat er gesagt, ‚da besorgen Sie ’mal das Grab recht schön, liebe Frau, und ich danke für freundliche Auskunft.‘ Und dann ist er gegangen. ‚Welches Grab?‘ hab’ ich hinterher geschrieen, aber er hat sich nicht umgedreht und nicht geantwortet. Und nun will ich man eben das Geld auf die Sparkasse tragen, denn so was kommt doch nicht alle Tage. Ich brauch’ mir ja kein Gewissen daraus zu machen, wenn ich’s nehme, ich sorg’ für alle Gräber, für Arme und Reiche, und der ganze Friedhof sieht aus wie ein Lustgarten, gnä’ Fräulein, das muß jeder sagen.“

„Bitte!“ rief jetzt der Beamte, und Frau Sietmann stürzte mit ihrem Sparkassenbuch vor.

Nein, zu den Schauspielern gehörte der nicht. Fünfzig Mark! Ein Westenberger Schauspieler und fünfzig Mark verschenken! Und ich lächelte plötzlich so vergnügt wie die Totengräbersfrau vorhin. Robert Nordmann! klang’s in meiner Seele wie Finkenschlag im Frühling, Robert Nordmann, der Base ihr Robert! Wenn er es wäre, welche Freude für die alte Frau!

Lange hielt freilich diese Stimmung nicht vor, und als ich in der Dämmerung nach Hause kam, schalt ich mich selbst aus. Wie konnte man so albern sein! Die drückende Gegenwart überfiel mich wieder mit aller Macht. Mamas Hilfe erschien mir zweifelhaft und das „Ausreißen“ unmöglich, als ich in den sinkenden Abend hinaussah. Die Angst vor einer unbekannten Fremde, wie sie jeder verspürt, der zum erstenmal hinaus soll aus der alten Heimat und der gewohnten Umgebung in eine ungewisse trübe Zukunft, packte mich mit eisernen Klammern. Wie wird’s werden, was soll ich thun, um mich zu retten vor dem verhaßten Menschen?

Da sah ich über dem leuchtenden Schnee des Hofes eine lange Gestalt daherwandern und erkannte das Ungetüm von Kapuze und den Muff, daraus man ein halbes Dutzend der jetzige Mode herstellen könnte, und mein Herz stand still vor Schreck. Die Komtesse, der mein Geschick keine Ruhe ließ, kam, um Wollmeyer ihre Meinung zu sagen, bevor sie sich bei Superintendents trafen! Am liebdten wär’ ich davongelaufen und hätte mich versteckt. Welche Scene würde nun folgen, schon deshalb, weil ich der alten Tante mein Vertrauen geschenkt hatte! Ich ging mit gerungenen Händen im Zimmer umher, während sie nun oben saß und ihre Auseinandersetzungen begann.

Mir war zu Mute, als hätte ich ein Verbrechen begangen; ich wußte nicht, ob die Zeit stille gestanden oder ob Stunden vergangen waren, als jetzt draußen eine Thür aufgerissen wurde und ein rascher heftiger Männerschritt sich meiner Stube näherte. Ich hatte noch kein Licht, aber ich erkannte die starke Figur meines Stiefvaters, der jetzt hinter sich die Thür schloß.

„Wo sind Sie?' fragte er kurz.

Ich erhob mich aus dem Lehnstuhl am Ofen. „Hier!“ sagte ich, aber der Ton wollte kaum aus der Kehle.

„Gehen Sie zu Ihrer Mutter hinauf, sie will Sie sprechen.“

„Weiß Mama –?“ stieß ich hervor.

„Wenn Sie so taktlos sind, ihr die Komtesse zu schicken als Fürbitterin, wird sie es wohl wissen.“

„Ich habe die Komtesse nicht geschickt – ich habe ihr nur, weil ich mich mit jemand aussprechen mußte – weil –“

„Diese Eutschuldigung nützt nichts mehr! Meine arme Frau ist furchtbar aufgeregt, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie das Mögliche thun, damit sie ruhiger wird. Kommen Sie und – bitte – vor allem keinen Widerspruch!“

Ich ging vor ihm her nach oben mit zitternden Gliedern. Was würde Mama thun? Würde ihr Mutterherz sprechen, würde sie mich retten? Ach, sie konnte ja nicht wollen, daß ich unglücklich werden solle, sie konnte nicht! „Sie ist im Schlafzimmer,“ sagte er hinter mir; und ich schritt über den Gang und klopfte an die Thür. Als keine Antwort erfolgte, drückte ich auf die Klinke und trat ein; er folgte mir unmittelbar.

Mein Lebtag werde ich den Anblick Mamas nicht vergessen. Das Zimmer war erhellt, von der Decke hing die angezündete Ampel und auf dem Toilettetisch brannten die Kerzen der dreiarmigen Leuchter. Mama war offenbar beim Ankleiden gestört worden. Sie ging auf und ab; die marineblaue seidene Robe, über die sie einen Frisiermantel gebunden hatte, rauschte und knisterte bei jeder Bewegung. Ihr Haar fiel halb gelöst über den weißen gestickten Batistmantel, und an den Schläfen krauste es sich so eigentümlich, als habe sie in bitterer Verzweiflung mit beiden Händen darin gewühlt. Das Gesicht war furchtbar verändert, aschfahl, die Augen eingesunken und wie abwesend blickend; von der Nase zum Mund eine unheimlich scharfe Linie. Sie schien mich gar nicht zu sehen in ihrem Umherwandern.

„Helene, hier ist Anneliese!“ rief mein Stiefvater laut.

„Mama!“ sagte ich und trat vor sie hin, „Mama, um Gotteswillen –“

Sie sah an mir vorüber und die Hände zuckten nach den Schläfen. „Ja, ja, ich gebe es zu!“ rief sie, „es ist gut, Du kannst gehen!“

„Aber Mama!“ jammerte ich, die gefalteten Hände ihr entgegenstreckend.

„Helene, sprich vernünftig, nimm Dich zusammen!“ Er zwang sie in einen Sessel. „Du findest es ganz vernünftig und den Verhältnissen angepaßt, wenn Anneliese die Hand von Otto von Brankwitz annimmt?“

Sie zitterte am ganzen Körper und blickte vor sich hin.

„Helene, rege Dich nicht auf – mache der Sache ein Ende, sprich!“ forderte er streng.

Da nickte sie heftig, automatenhaft mit dem Kopfe: „Ja – ja – ja!“ Das letzte war wie ein Schrei.

„Meine liebe Mama!“ schrie ich auf. „Nein, Mama, Du kannst nicht, Du willst es nicht!“ und ich stürzte hin zu ihr und lag vor ihr auf den Knien und packte eine Falte ihres Kleides und forschte mit Todesangst in ihrem Gesicht.

Da drängte sie mich zurück und nickte noch einmal, ohne mich anzuschauen. „Ja, es ist recht, es ist das einzige, was – es ist eine sehr passende Partie, es ist – Du wirst es einsehen lernen –“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_742.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)