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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

so sind wir nicht mehr, und die Männer auch nicht – bange machen gilt nicht, Sie kleiner reizender Wildfang! Gute Nacht!“

Sie hauchte einen Kuß auf meine Stirn und rauschte der Thür zu. „Gute Nacht!“ dann noch ein Kußhändchen, und sie war verschwunden.

Ich strich mir langsam über die Stirn. „Allmächtiger!“ sagte ich halblaut, „und in diesen Schmutz wollen sie mich ziehen, und ich soll es mir gefallen lassen? Und keiner, keiner ist da, der mir beisteht. Und wenn es ihnen gelänge, wenn meine Widerstandskraft erlahmte, wenn ich so leben müßte wie diese Frau, so lächeln, so denken lernte – –“ Ich lief im Zimmer umher, in dem Gefühl erstickender Angst, schlug die Läden zurück und riß die Fenster auf, damit das entsetzliche süße Parfüm entweiche, das mir übel machte.

Ach, nur ein Herz, dem ich’s sagen könnte! Bis übermorgen mittag Frist! Nein, ich wollte mich nicht dazu hergeben, ich wollte nicht!

Mit der kalten Luft kam wieder etwas Ruhe über mich. Ich schloß die Fenster und Läden und suchte mein Lager auf.


Am andern Morgen wurde ich nicht geweckt; man wollte mir wahrscheinlich Zeit lassen zum Ueberlegen und verzichtete auf meine Gesellschaft am Frühstückstisch. So schlief ich, bis um zehn Uhr Mama an die Thür klopfte, die ängstlich frug, ob ich nicht wohl sei. Als ich sie einließ, starrte sie mich an. „Um Gott, Du bist krank!“

„O nein, Mama, ganz gesund. Was wünschest Du?“

„Ich wollte Dich sehen. Wie Du nur fragst!“

„Liebe Mama, ich wäre in einer Viertelstunde hinaufgekommen und hätte Dir Guten Tag gesagt. Uebrigens will ich nachher die Komtesse besuchen; hast Du Lust, mich zu begleiten?“

„Ich weiß nicht, ob es geht.“

„Und dann auf den Friedhof zu Papa.“

Sie sah traurig zu Boden.

„Laß nur, Mama, die Lebenden haben das Recht. Ich grüße ihn von Dir.“

„Warum denn heute gerade, in dem Schnee, Anneliese?“

„Ich habe Sehnsucht, und Du weißt ja, von Tante aus ist’s so bequem und immer Bahn gefegt durch den Garten.“

„Der alte Herr von Tollen ist tot,“ sagte Mama nach kurzer Pause, „und die Lore ist wieder da.“

„Arme Lore!“

Sie nickte. „Grüße die Komtesse, Anneliese.“

„Danke!“

Ich hatte mich während dieser Worte angekleidet, hastig eine Tasse Thee getrunken, und dann gingen wir beide zusammen aus dem Zimmer; sie die Treppe hinauf, ich aus dem Hause.

Es war wunderbarer Schwee gefallen, das kleine Westenberg sah aus wie eine Braut in weißem silberfunkelnden Kleide. Hier und da klingelte ein Schlitten durch die Straßen, der mich zwang, auf das schmale Trottoir zu flüchten; auf den Rinnsteinen schlitterten die Jungen in ihren Holzpantoffeln und unter den Lastwagen knirschte der Schnee. Jedes Giebelchen, jedes Türmchen trug eine köstliche Zipfelmütze und die Dachrinnen waren mit funkelndem Eisbehang geziert. Es lag ein weihnachtlicher trauter Hauch über dem Ganzen; es erinnerte mich an ferne glückliche Tage, als ich noch mit Papa, dem Eislauf huldigend, auf dem stillen Flüßchen dahingefahren war, weit, weit, bis ins Hannoversche. O ihr schönen Zeiten! Und jetzt?

Ich dachte vor der Hand nicht daran, zur Komtesse zu gehen; ich suchte den Kirchhof auf. Hier schien heute erst ein einziger Mensch gegangen zu sein. Der große Mittelweg war in aller Morgenfrühe vom Schnee befreit worden, aber doch wieder leicht überschneit, und diesem Flimmer waren die Spuren von Füßen eingeprägt, von Männerfüßen, jedenfalls aber von feinem Schuhwerk. Der Totengräber konnte es nicht gewesen sein, der trug fürchterliche Nägelstiefel; vielleicht jemand von Tollens, der die Grabstelle ausgesucht hatte. Es war mir ein unangenehmer Gedanke, diesen jemand – es mußte doch einer der Söhne sein – hier zu treffen; ich kann so schlecht kondolieren, auch wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist, so will doch kein Wort über die Lippen. Ich schwenkte also links ab und ging durch tiefen Schnee zwischen den eng aneinander liegenden Gräbern hindurch zu Papas Ruheplatz hinüber. Ich hatte weiter nichts für ihn als einen Stechpalmenzweig mit roten Beeren; den legte ich auf den verschneiten Holzkasten, der als Schutz gegen Wintersunbill den Marmorstein bedeckte, schüttelte von den Zweigen der Cypresse die Schneelast ab und fühlte mich in dieser stillen toten winterlichen Umgebung verlassener denn je. Man kann lange fragen und klagen – so ein Grabhügel läßt keine Antwort durch; man kann lange wünschen: ich wollt’, ich läge da drunten statt deiner! und man muß doch leben, so lange Gott es will.

Ich ließ mein Auge von dem Grabe über die vielen andern Hügel schweifen bis zum Garten der Komtesse hinüber, deren hübsches kleines Haus so behaglich unter den zwei hohen Linden lag.

„Ich will doch hinüber,“ sagte ich halblaut, bückte mich noch einmal, um eine Epheuranke aus dem Schnee zu graben, und ging. Ich mußte an Hannchens Grab vorüber und sah hier dieselben Fußspuren und da stand auch jemand vor dem Hügel, ein Mann – anscheinend ein junger Mann. Er drehte mir den Rücken zu, hatte einen Fuß auf die Einfassung gesetzt und sah unbeweglich zur Marienkirche hinüber. Ich zögerte einen Augenblick, überlegend, wie ich dem Fremden ausweichen könne, da wendete er sich kurz um und wir standen uns in dem engen Pfad gegenüber.

„Verzeihung!“ sagte er, in eine Querreihe zurückweichend, und lüftete den Hut.

Einige Sekunden lang sahen wir uns an. Ein schönes junges Gesicht leuchtete mir entgegen, von braunem Bart umrahmt, und ein Paar lebhafter Augen betrachtete mich, die zuerst gleichgültig neben mir hin sahen, dann einen unendlich freundlichen Schimmer bekamen.

„Es ist ein wenig eng hier,“ sagte er, „ich hoffe, Sie werden vorbei können, mein Fräulein. Aber zuvor gestatten Sie mir wohl eine Frage – wer liegt unter dem Grabhügel, vor dem ich soeben stand?“ Und er wies zurück auf Hannchens Ruhestätte.

„Frau Stadtrat Wollmeyer,“ antwortete ich.

„Danke tausendmal!“ sagte er, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der bestätigt findet, was er zu hören gewünscht hat.

Wieder eine Pause. Unwillkürlich umfaßte ich seine ganze Erscheinung mit meinen verwunderten Augen. Er erschien mir so ungewöhnlich – in Westenberg war so etwas noch nicht gesehen worden – schon sein Anzug, der Reisemantel von grauem Stoff, ein Hut von gleicher Farbe, eine höchst elegante Ledertasche über der Schulter und feine wildlederne Handschuhe – –

„Guten Tag, mein Fräulein!“ hörte ich ihn sprechen, und er lüftete den Hut über dem braunen glänzenden Scheitel.

Ich nickte nur stumm und verfolgte ihn mit meinen Blicken, so lange er auf dem Mittelweg zu sehen war. Auf einmal kam mir blitzartig ein Gedanke. „Robert Nordmann!“ schrie ich auf. „Robert Nordmann, der Base ihr Robert!“ und ich begann zu laufen wie ein wildes Schulmädchen, daß mir das Pelzkäppchen über die Stirn zurückrutschte. Dann überfiel mich eine glühende Scham. Um alles in der Welt, was ging mich Robert Nordmann an?

Ich zog die Pelzkappe zurecht und schritt langsam weiter. Lächerlich! Wie sollte Robert Nordmann hierher kommen! Das zu glauben, weil zufällig ein fremder Mann vor Hannchens Grabe gestanden hatte! Da hatte mir meine Phantasie wieder einen Streich gespielt! – „Annelieseken!“ würde die Base kopfschüttelnd sagen.

„Ach Base, Base, wärst Du hier!“ jammerte ich, und während all mein Leid mir doppelt schwer aufs Herz fiel, klinkte ich das Pförtchen auf zum Garten der Komtesse und trat ins Haus mit einem so niedergeschlagenen Ausdruck im Gesichte, daß selbst die alte Josephine sagte: „Sie sind keine richtige Gesellschaft heute für gnädige Komtesse, Fräulein von Sternberg; gnädige Komtesse macht alleweil’ auch so ein Gesicht wie Sie.“

Ich wagte nur ganz schüchtern anzuklopfen, und das überlaute zornige „Herein!“ weissagte mir nichts Gutes. Die alte Dame hatte sich in ein dickes Tuch vermummt und sah so giftig aus wie ein Bullenbeißer. „Guten Morgen, Tante!“ sagte ich kleinlaut.

„’n Morgen! Auf die nächste Hochzeit kannst Du allein gehen, mein Kücken! Wie jetzt die Hochzeiten sind, mag ich nichts mit zu thun haben, und wenn’s selbst Deine eigene wäre!“

„Hast Du Dich erkältet, Tante?“ stotterte ich.

„Erkältet? Ich erkälte mich nie. Alteriert habe ich mich, Leberkolik hab’ ich bekommen und – na, ’s ist nicht mehr zu ändern. O Ihr Heutigen, Ihr Heutigen! Mit Dir hab’ ich auch ein Hühnchen zu pflücken,“ schrie sie mich plötzlich an, „der sogenannte Herr von Brankwitz hat sich auf eine Weise Dir genähert, die Ohrfeigen verdient! Der Kerl sieht aus wie ein Käsematz mit einer Sirupssauce darüber. Aber nicht wahr, wenn ’s nur überhaupt einer ist!“

„Ach, Tante Komtesse, Tante Komtesse,“ bat ich, „höre mich doch nur an!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_727.jpg&oldid=- (Version vom 25.8.2022)