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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

binden, wenn er ihn bei seinen Plänen gegen den isisfeindlichen Lucius Menenius gebrauchen würde, das benahm der Lektion nichts von ihrer gewaltigen Wirkung; denn Geticus ahnte nicht den Zusammenhang, und so war diesmal ein überzeugungsloser Verächter der Wahrheit ihr starker Prophet gewesen.

An dem Vormittage, an dem Lucius Menenius den großen Empfang hatte, war bei Geticus nachgerade ein Zustand eingetreten, welcher an Irrsinn grenzte. Immer und immer wieder drehten sich seine Gedanken im nämlichen Kreislaufe: Ninus darf die holdselige Afra niemals besitzen – aber er wird sie besitzen! Ich, Geticus, will und muß ihm gewaltsam den Weg verlegen – aber ich kann nicht! Den Mord würde der Totenrichter verzeihen, wenn er in mein zerrissenes Herz blickte. Für den Meineid jedoch giebt’s keine Sühne, bis dereinst nach Aeonen die uranfängliche Nacht zurückkehrt.

Dabei malte sich seine selbstquälerische Einbildungskraft vorschauend die ganze Entwicklung der Zukunft – die Freilassung des Ninus sowohl wie der Afra; den unerschöpflichen Dank der Plotina, die es natürlich für ihre Pflicht hielt, der Braut ihres vermeintlichen Retters eigenhändig die Hochzeit zu rüsten; das Festmahl im Xystus, an dem die ganze Familie, vom Hausherrn bis herab zu dem niedrigsten Kehrsklaven, teilnehmen würde; den Hochzeitsgesang und den Reigen der Tänzerinnen; die Wegführung der verschleierten Braut, deren rosige Glut durch das leichte Gewebe von Kos hindurchflammte wie die Sonne durch Nebelrauch. ... Und er, Geticus, würde das alles mit ansehen, den Stachel der Qual im Herzen, ohnmächtig, in starrer Verzweiflung!

Nein, das war undenkbar!

Vorübergehend schwebte ihm eine Lösung vor, die zwar beinahe so fürchterlich wie der Meineid, aber immer doch eine Lösung war . . . Er mußte die treulose Afra töten und dann sich selbst. Kaum aber hatte er diesen Gedanken gefaßt, als er ihn auch mit Ungestüm über Bord warf. Die Vorstellung, dies bezaubernde Mädchen, das ihm der Inbegriff alles Holden und Wonnigen war, grausam dahinzuschlachten, flößte ihm den unsagbarsten Schauder ein. Beide Hände streckte er von sich, als nahe ihm die Versuchung in Gestalt einer grausenhaften Lemure. „Nie, nie!“ stöhnte er durch die Zähne. „Fluch mir, daß ich’s auch nur sekundenlang denken konnte!“

Und dann, von dieser Unmöglichkeit abgesehen: Ninus würde sie überleben, würde ihr Grab pflegen, ihrer verewigten Seele Totenopfer und Kränze darbringen! Das wäre ein schlechter Trost für den Verzweifelten, der sie getötet hätte. Nein! Er gönnte dem Nebenbuhler nicht einmal den Schmerz um die Abgeschiedene. Ninus selbst mußte fallen, das war der einzige Ausweg! Und dieser einzige Ausweg schien ewig versperrt.

Zwei Stunden vor Mittag, nachdem sich die Scharen der Morgenbesucher im Atrium längst schon verlaufen hatten, befand sich Geticus allein im Bibliothekzimmer. Der Bibliothekar hatte ihm den Auftrag erteilt, die letzten Nummern des römische Nachrichtenblattes, der „acta diurna“, die hier bunt durcheinander auf einem der broncenen Tische lagen, chronologisch zu ordnen und in die eigens dazu bestimmten Kästen zu legen.

Die „acta diurna“, das offizielle Amtsblatt der Stadt und des Staates, das, teils durch die sogenannten Diktiersklaven, teils durch Privatunternehmer vervielfältigt, bis in die fernsten Provinzen des Weltreichs versandt wurde, brachten die wichtigsten Mitteilungen aus dem Gebiet des politischen, gesellschaftlichen und litterarischen Lebens; die Erlasse der Verwaltungsbeamten, die Senatsverhandlungen unter wörtlicher Wiedergabe einzelner besonders interessanter Reden, bedeutsame Botschaften aus allen Weltgegenden, Prozeßverhandlungen; und schließlich eine bunte Rubrik, in der bemerkenswerte Ereignisse aus dem öffentlichen Verkehr, Unglücksfälle, Naturerscheinungen, Heiraten hervorragender Persönlichkeiten, Verbrechen, sowie die Programme der Wettrennen, der Gladiatorenkämpfe und sonstiger Schauspiele mitgeteilt wurden.

Die Exemplare, die Lucius Menenius unmittelbar von der Expedition empfing, waren, ungleich den für die große Masse bestimmten, von besonders geübten Schreibern auf das feinste alexandrinische Pergament geschrieben, schwarzbraun auf hellgelb, und ganz nach Art größerer Manuskripte je um ein Stäbchen gerollt, dessen hervorstehende Knöpfe in Pupur und Silber glänzten.

Geticus, dem diese Arbeit erwünscht kam, denn sie lenkte ihn einigermaßen von seinen hirnzerwühlenden Selbstbetrachtungen ab, rollte die Exemplare einzeln auf, um nach dem Datum zu schauen.

Da fiel ihm, als er die Nummer vom siebenten Mai in der Hand hielt, gleich auf der Titelseite der mehrfach wiederholte Name des Lucius Menenius ins Auge. Es handelte sich um eine Senatssitzung, die sich vorwiegend mit der Anklage wider einen ungetreuen Provinzbeamten beschäftigt hatte. Die Spitzbübereien, die hier zur Erörterung gelangten, waren so überraschend, daß Geticus weiter las. Und wie er so unter dem Lesen merkte, daß die bohrende Pein seines Gemüts nachließ, fuhr er mit Lesen und Blättern fort und griff in die anderen Rubriken hinüber, wo von der Freisprechung eines Aedilen die Rede war. Und dann kam eine Angelegenheit der spanischen Provinz Bätica und eine Nachricht von der germanischen Grenze ...

Er las und las. Da plötzlich stutzte er. Eine glühende Blutwelle stieg ihm jäh in die Stirne. Er mußte sich mit der Hand auf die Tischplatte stützen. Gierig, zitternd, mit vorquellenden Augen verschlang er nun jede Silbe. Dann glitt der Ausdruck eines wilden Triumphes über sein Antlitz. Er rollte das Pergament zusammen und schwang es in seiner Faust wie eine Waffe.

Das war’s! Das mußte alles ins rechte Geleis bringen – wenn anders sich Afra nicht völlig verblendet und jeder Furcht vor dem Zorn eines Verzweifelten unzugänglich erwies. Und blieb sie dauernd verstockt – gut! Hier hatte er, was ihn rächen würde! Auf jeden Fall war nun das Schicksal des Ninus endgültig besiegelt. Der elende Schleicher würde niemals die reizende Blume pflücken, an deren Duft er sich so glühend berauscht hatte! Niemals! Und Geticus brauchte trotzdem seinen Eid nicht zu brechen.

Er unterdrückte kaum einen Jubelschrei. All die Bilder, mit denen er sich noch eben gequält hatte, waren nun hinfällig. Kein trautes Familienfest und kein prangendes Hochzeitsmahl! Kein Hymenäus für den widerlichen Asiaten und keine verschleierte Braut mit schmachtenden Glutaugen! Es war ein Umschwung wie vom Elysium zum Tartarus!

Geticus überlegte. Die Drohung, mit der er nun Afra in seine Gewalt bekam, würde wohl ausreichen, den Barbaren hinwegzudrängen. Aber was dann? Durfte er sich mit der Hoffnung tragen, ihr Herz zu erobern, wenn er sie auf diese Weise von dem Mann ihrer Wahl riß? Ihr Herz! Was lag ihm daran! Zunächst galt es, ihren Besitz zu erlangen. Sie mußte ihm ihre Hand zuschwören bei dem nämlichen Jupiter, bei welchem er ihr geschworen hatte. Nur dann, wenn sie sich ihm feierlich angelobte, würde er von der Verwirklichung seiner Drohung zurückstehen! Pah, und wenn er sie erst besaß, sie selbst vom Scheitel zur Sohle, dann wollte er mit der Zeit auch ihr Herz gewinnen!

Verzerrten Gesichts ging er ans Werk, die „acta diurna“ in die Buchkästen zu verteilen. Die eine Nummer jedoch hielt er zurück und barg sie im Bausch seiner Tunika. Hiernach verließ er den einsamen Raum und begab sich nach dem Speisegemach der „Ordinarii“, wo man für die bevorzugten Sklaven eben das Mahl verabreichte.

Da saßen nach altlatinischer Weise auf Holzstühlen Heliodorus und Ninus, Afra und die kunstbegabte Coronis, der Bibliothekar und der feiste Proviantmeister – und mit ihnen wohl noch ein Dutzend der „Angeseheneren“, plaudernd, essend und trinkend, formvoller im Verkehr, als neulich die buntgemischte Gesellschaft der Xystus-Zecher, aber doch weit entfernt von jener nachäffenden Vornehmheit, wie sie dem Sklaven eignet, der sich beständig als willenloses Besitztum seines Gebieters fühlt. Auch ward kein unwirsches Wort gegen die Kleinsklaven laut, welche bei Tisch bedienten.

Geticus warf dem Leibarzt einen verschleierten Blick zu. „Warte nur!“ stand in dem Blicke zu lesen, „eh’ noch die Sonne sinkt, wird sich Dein Uebermut abkühlen!“ Dabei wunderte sich Geticus über die Maßen, wie wenig Ninus und Afra ihre Beziehungen merken ließen.

Als die Mahlzeit beendet war, fand sich für Geticus die Gelegenheit, unbemerkt an Afra das Wort zu richten.

„Mädchen, ich habe mit Dir zu reden! Ganz unter vier Augen! Beim Jupiter, es handelt sich um Dein Leben! Du weißt, Afra, ich schwöre nicht falsch! Wo und wann bist Du zu treffen?“

Afra, die schon im Begriff war, ihm spöttisch den Rücken zu kehren, stutzte bei diesem Ton.

„Wo und wann?“ wiederholte er unheimlich.

Die Sklavin starrte ihm ratlos in die wild funkelnden Augen. Sie zögerte, dann sagte sie achselzuckend:

„In anderthalb Stunden. Hinter dem Rosengehege.“

„Gut! Sei pünktlich!“


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