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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

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Die Obstkammer Berlins.

Von Richard Nordhausen. Mit Zeichnungen von A. Kiekebusch.

Es ist noch früh. Die Herbstsonne kämpft tapfer mit den braunen Schwaden, die aus der Stadt aufzusteigen scheinen und sie immer wieder zu verhüllen drohen; tapfer verteidigt sie die an den Kirchturmspitzen schon eroberten festen Positionen und endlich gelingt es ihr, all das Gewölk zu durchbrechen und eine flackernde Lichtflut über das schlummernde Berlin im Grunde auszugießen. An den Ufern der Spree wird es lebendig, Rauchwölkchen steigen aus den kleinen Ofenessen der plumpen Holzkähne auf, Möwen, die schon ins Winterquartier kamen, flattern eifrig umher und äugen, als erwarteten sie liebe Gäste. Und siehe – weit hinten in der Ferne, wo Dämmerung und Sonnenglanz, braungoldne Schatten und Himmelsblau ineinander tauchen, mischt sich ein neuer Farbenton in das Herbstgemälde, schwärzlicher Qualm, wie von einem Schornstein.... Man weiß schon, das sind die Werderaner, die Frühaufsteher, die auf überreich beladenen Schuten, auf großen Raddampfern, den Obstfreunden der Hauptstadt Tag um Tag die wohlschmeckenden Gaben dieses lachenden Herbstes bringen. Nicht eben lange, und die immer wieder gern gesehenen Fahrzeuge schwimmen heran. Wer gerade die Uferstraße passiert, bleibt stehen und betrachtet sie mit sonnigem Wohlbehagen. Denn von den unzähligen, das ganze Verdeck füllenden Bütten voll prächtig rotbäckiger Aepfel strömt ein Duft aus, der den geborenen Berliner immer wieder berauscht, der eine Reihe lieber, köstlicher Erinnerungen auslöst und ihn zwingt, zu schauen und zu träumen. Wessen Familie in der Hauptstadt erbeingesessen ist, wer nicht zu jenen „Zugezogenen“ gehört, die nur dem Namen, nicht der Sinnesart nach Berliner sind, der liebt die spießbürgerlich gemütliche Poesie, die halb hausbackene und halb himmlische Poesie, welche so ein „Aeppelkahn“ ausstrahlt, den nimmt sie stets von neuem gefangen. Ach, die Tage, wo man mit „Muttern“ auf den Obstmarkt gehen, lüstern zwischen all den gesteckt vollen „Tienen“ herumlaufen durfte und überall da, wo Mutter etwas kaufte, keck in die Fülle der Früchte hineingriff, um zu „kosten“! Ach, die Tage, die lieben Tage, wo man auf dem Wege zur „Klippschule“ bei den „Werderschen“ vorüberkam und alle Sorgen, die Angst um den fehlenden Aufsatz, um die ungelernten Bibelsprüche über ihrem hinreißenden Anblick vergaß! Wo man Herkulesthaten verrichtete, um einen Dreier als Lohn zu erlangen und sofort in „Aeppeln“ oder „Flaumen“ anlegen zu können! Herbstlich sonnige Tage, weiße Fäden in der Luft – wie erinnert ihr hold an die Jugendzeit, da das Laub auf den Bäumen noch nicht bunt und das Haar auf dem Kopfe noch nicht weiß war … Reifer Apfel unten im Kahn, wir haben dich schon im Lenze bewundert, als du noch Blüte warst, und es ist schwer, zu sagen, wann du uns besser gefielst, damals oder heute ....

Zur Zeit der Baumblüte auf dem Wachtelwinkel bei Werder.

Die schönen Tage der Baumblüte – wie schön dünken sie uns erst im Herbst, wenn ihre Früchte so lockend und freundlich herauflachen!

Wißt ihr denn, was der Frühling ist für die sandige Mark Brandenburg, der Maienfrühling, die Auferstehungszeit? Was die Mitternachtssonne, nein, was das Nordlicht ist für die Polarlande, was eine plötzliche Sturmflut großer und schöner Gedanken für den lange fruchtlos brütenden Geist, was eine Flasche Sekt für den armen Poeten, was Schimmer der Ballnachtskerzen und ein knisterndes weißes Atlaskleid für die sechzehnjährige Mädchenknospe! Meiner Heimat mildes Antlitz strahlt wie ein beglücktes Menschengesicht, glänzt wie von neuem Leben und lacht im Frühling, während es in den anderen Jahreszeiten ernst und schweigsam bleibt. Der Frühling ist nirgends schöner, kann nirgends schöner sein als in der Mark, denn nirgends bleibt ihm mehr zu thun als hier. Nirgendwo tritt der Gegensatz zwischen Winter und Lenz so überraschend hervor wie im seenreichen Flachlande. Indes die Landschaft lohnt auch dem Lenze seine Liebe, und wenn bevorzugtere Gegenden ihren vollen Reiz erst im Juni oder Juli oder gar im Herbst entfalten, so bedeuten für uns Märker die Tage der ersten Blüte auch die der höchsten Blüte des Jahres.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_696.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2023)