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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

bekümmern deren volles rosig weißes Gesicht verblüfft und erstaunt unter dem Sealsbarett hervorsah, schrie sie: „Die ganzen hochweisen Stadtverordneten können sich meinetwegen begraben lassen, verehrter Herr Wollmeyer! Brennt wohl eine einzige Laterne in der ganzen Stadt? An der Ecke von Schuster Grün ist mir ein Pantoffel stecken geblieben, und wenn ich meine Laterne nicht gehabt hätte, steckte er noch da! Nachgerade sollten Sie doch wissen, daß auf den Mond kein Verlaß ist!“

„Bei der nächsten Wahl werden wir Sie zum Bürgermeister vorschlagen, gnädigste Gräfin – ha, hal“ antwortete lachend der Hausherr. „Aber da wir uns einmal so unvermutet hier treffen – darf ich Ihnen Frau Sellmann, geborene von Brankwitz, vorstellen? Lieber Besuch, hoffentlich recht lange, ja – hm! Herr Otto von Brankwitz!“

„Hatte schon das Vergnügen,“ sagte die Komtesse zu dem Letzteren, während sich ihre ungeheure Kapuze etwas gegen die junge Witwe neigte. „Sehr erfreut, aber wenn wir hier bleiben sollen, mein guter Wollmeyer, dann lassen Sie Stühle bringen, oder erlauben Sie ’mal, daß ich voran marschiere.“

Und sie stelzte mit ihren kurzen Röcken und den riesigen Schuhen ohne Absätze der Treppe zu, nachdem sie die Pantoffeln an der Thür gelassen hatte.

Die Frau Sellmann folgte lächelnd, und ebenso wir. Ich sah es noch, wie ein mannshoher Koffer in die Zimmer an der andern Seite des Flurs, uns gegenüber, geschafft wurde – dort wohnte die Dame.

Oben kam Mama uns im Vorzimmer entgegen. Erneute Begrüßung, ein Umarmen und Küssen seitens der Geborenen von Brankwitz, das endlos dauerte, während die Komtesse sich den Mantel abnehmen ließ und ihr Kleid in Ordnung brachte. „’n Abend, Len’,“ grüßte sie, als Mama endlich frei wurde, „was ist denn los bei Euch? Wird getanzt?“

Mama sah verlegen lächelnd an ihrem weißen Wollkleid herunter.

„Na, entschuldige! Ich habe meinen alten Kittel an. Das Schwarzseidene riskierte ich nicht bei dem Wetter – wenn’s Herz nur gut ist!“

Und sie küßte Mama auf die Stirn und sah mit verwunderter Miene der Frau Sellmann nach, die nur ein wenig Toilette machen wollte.

Mama entschuldigte sich bei der Komtesse, beauftragte mich, dieselbe in ihr Boudoir zu führen, und stieg treppab, um dem fremdem Gaste die Zimmer anzuweisen.

„Na, wie geht’s denn, Kücken?“ fragte die Gräfin mich drinnen – die Herren waren eine Treppe höher gegangen, wo Brankwitz wohnte – „hast wohl keine Langeweile mehr? Alle Tage etwas anderes – mußt wohl ordentlich Haustochter spielen? Aber hör’, die Len’, wie sieht die Len’ aus! Hatte sie geweint?“

„Ich weiß nicht, Tante, ich habe Mama heute sehr wenig gesehen.“

Ich faßte Mama schärfer ins Auge, als sie zurückkam; wirklich, sie hatte rotumränderte matte Augen und drückte des öfteren die Hand gegen die rechte Schläfe. Es mußte etwas vorgefallen sein, das sie mir verschweigen wollten, die Base sowohl wie Mama. Arme Mama!

Der Hausherr, der mich heute mit Vorliebe „Töchterchen“ nannte, führte etwas später die Komtesse am einen und Frau Sellmann am andern Arm ins Speisezimmer; er war ganz ausgesucht guter Stimmung heute abend; Herr von Brankwitz reichte Mama den rechten Arm, ich übersah den anderen und schlenderte hinterdrein mit gesenkten Augen. Bei Tische saß ich natürlich neben ihm.

Er begann eine halblaute Unterhaltung, wobei er die blaßblauen Augen beständig in die meinen zu versenken suchte. Ich antwortete unartig laut und überhaupt sehr kurz; mir kam dieser Jüngling einfach albern vor. Jedenfalls war seine Schwester eine ganz andere Persönlichkeit. Groß, schlank, zungengewandt, von rosiger Gesichtsfarbe und rotblonden Titianhaaren; letztere Eigenschaften jedenfalls samt den kohlschwarzen Augenbrauen auf kosmetischem Wege angezaubert. Sie hatte ihre üppige Gestalt in schwarzen Atlas gepreßt, und für jedermann, der ein bißchen schlecht sah, war sie ohne Zweifel imponiereud schön, aber von einer Schönheit, die für honette Damen etwas Peinliches hat.

Die Komtesse in ihrer schwarzen Wollspitzenhaube, die mit Granatnadeln festgesteckt war, und ihrem einfachen schwarzen Wollkleid wandte kein Auge von der Dame, und ihr Gesicht zeigte den bekannten Ausdruck, in dem Mißtrauen und Hochmut sich mischten; sie konnte sehr fatal aussehen, die alte Dame, und heute abend that sie es in besonderem Grade. Ich hätte etwas darum gegeben, hätte ich in diesem Augenblick ihre Gedanken erraten können.

„So ein kleines Städtchen hat etwas unglaublich Trauliches,“ flötete Frau Sellmann und machte sich eine Auster mundgerecht, „man kommt sich vor, als sei man der Gegenwart entrückt, als lebe man im Mittelalter. Ich denke mir, hier muß die Zeil stille stehen.“

„Keineswegs,“ sagte die Komtesse trocken, „man wird hier so gut älter wie in Berlin, nicht wahr, lieber Wollmeyer?“

„Aber wer wird vom Alter reden in Gegenwart so schöner Damen?“ rief Herr von Brankwitz. „Meine Damen, Ihr Wohl, Ihr ganz spezielles, Fräulein von Sternberg!“

Ich stieß mit ihm an, aber wich seinen Blicken aus.

„Meine Schwester hat recht, wenn sie sagt, hier stehe die Zeit still,“ begann er. „Sie sollten wo anders leben, gnädiges Fräulein, es ist hier nicht der Platz für Sie; Sie müssen gesehen, bewundert werden – hm –“

Er verstummte, ich mochte ihn wohl befremdet angeblickt haben.

„Onkel Wollmeyer, Du mußt mir das liebe Ding einmal nach Berlin schicken,“ sagte Frau Sellmann.

„Anneliese fühlt sich hier, glaube ich, ganz glücklich,“ fuhr die Komtesse dazwischen. „Nicht, meine Tochter?“

„Wenn mit dem ‚lieben Ding‘ ich gemeint bin – ich dachte, es sei von Mamas Pinscher die Rede – so muß ich bemerken, daß ich für mein Teil nicht auf Berlin brenne.“

„Anneliese!“ mahnte Mama.

Herr Otto von Brankwitz lachte.

„Vorläufig bleiben wir alle hier und vergnügen uns, so gut es geht, meine Herrschaften,“ rief mein Stiefvaler. „Ich veranstalte ein Eisfest auf dem Teich –“

„Es gefriert ja gar nicht,“ flötete Frau Sellmann.

„Ein Westenberger Stadtrat kann alles,“ sagte die Komtesse, „kann auch gefrieren lassen.“

„Reizend, Komtesse, bravo!“ lachte der Stadtrat, „dann Schlittenpartien, Mondscheinball, Hausball, Weihnachtsjubel, Wohlthätigkeitsvorstellung und so weiter und so weiter! Trinken wir auf einen fröhlichen Winter!“

„Ich trinke noch auf etwas anderes,“ flüsterte Herr von Brankwitz, mir tief ins Auge sehend, und er rührte an mein Champagnerglas, das ruhig auf dem Tische stand, wo es auch stehen blieb.

Ich hatte die Achseln unmerklich gezuckt und eine hochmütige Miene aufgesetzt.

Nach Tische vergaßen wir, uns gegenseitig eine gesegnete Mahlzeit zu wünschen. Den Kaffee nahm man in dem zu einem türkischen Zelt umgewandelten Raum neben Mamas Boudoir. Frau Sellmann lag auf der Chaiselongue ausgestreckt, eine Cigarette rauchend; die Komtesse, mit einem großen groben Strickzeug, saß auf einem niedrigen Sessel, während die Herren ebenfalls rauchten.

„Anneliese, spiele mir mein Lieblingsstück,“ bat die alte Dame, und ich ging ins Nebenzimmer, um ihr das Ochsenmenuett von Haydn zu Gehör zu bringen, das sie vor ewig langer Zeit einmal mit einem Prinzen vierhändig gespielt hatte, in einer Gesellschaft bei „Papa Excellenz“, und das sie zaubermächtig zurückversetzte in die ferne Jugend.

Plötzlich griff eine breite, aber wohlgepflegte Männerhand über meine Schulter hinweg und schlug das Notenblatt um.

„Danke sehr, aber das thue ich lieber selbst,“ sagte ich laut.

„Warum denn so feindselig, Fräulein Anneliese?“ tönte es flüsternd zurück. „Wenn Sie wüßten, wie ich mich gefreut habe, Sie wiederzusehen, gefreut seit jenem Tage, wo ich die Ehre hatte, Ihr Tischnachbar zu sein! Sie waren entzückend auf dieser Hochzeit, so zigeunerhaft wild und dabei so süß, einfach süß! Ich sagte zu meiner Schwester, als ich nach Berlin zurückkam, ‚Olga,‘ sagte ich, ‚Du glaubst nicht, was in dieser Kleinen – pardon – dieser jungen Dame für Temperament, für Rasse, für –‘“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_691.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)