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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

vielmehr Sinnbild der Würde als Schutz ist, nimmt der Gewaltige Kenntnis von den Thatsachen, welche die Sicherung seiner Herrschaft verbürgen: hingestreckt liegen vor ihm die Leichen der gefährlichsten unter den Feinden, und der Kamelreiter, der ihm gegenüber auf einer kleinen Erhöhung hält und soeben eingetroffen ist – sei es nun wirklich, sei es bloß zum Schein für den Zweck der Scene – berichtet, daß der ganze Anhang jener Gefährlichen vernichtet sei und überall eitel Begeisterung für die erhabene Person des edelsten aller Fürsten herrsche. Wer die Macher sind, wessen Hände all die Fäden gesponnen, die in dem grausigen Schauspiel einen vielleicht nicht einmal endgültigen Abschluß finden, ist aus der Darstellung nicht deutlich zu erkennen, denn mit Ausnahme einiger wenigen, die allerdings desto bösartiger dreinschauen, sind die Personen, die den Mittelpunkt umgeben, zu sehr vermummt, um einen Schluß zu gestatten. Sollte nicht der Turm rechts im Hintergrunde zur Lösung des Rätsels helfen? Es ist der einer Moschee, doch nicht von der Gestalt jener zuweilen etwas gar zu schlanken, wie sie in den östlichen Ländern des Islams üblich sind, sondern einer jener massiven, viereckigen, wie sie allein in Marokko angetroffen werden. Wie bei uns im Mittelalter, so spielt noch heute im Orient die Priesterschaft eine wichtige, ja die Hauptrolle bei allen Staatsaktionen!

Noch etwas anderes zeigt der Hintergrund: ein Stück der fernen Höhen des Atlas, an dessen Fuß die Stadt Marokko, der Schauplatz der Scene, liegt. Die Berberstämme dort waren allezeit unbotmäßig, aber man nahm es mit der Erfüllung ihrer Unterthanenpflichten nie zu genau. Jetzt aber hatten sie sich um den Prätendenten geschart, der ihnen freilich wohl nicht ernst gemeinte Versprechungen gemacht; er wurde zerschmettert, und sie mit ihm. Wer kann sagen, ob die unter ihnen, die am eifrigsten für die ihnen gut scheinende Sache gekämpft und darum am meisten gelitten haben, nicht viel vornehmer, edler waren als die „Edelsten“, denen geschicktes Ränkespiel, günstige Zufälle die Macht in die Hand gespielt haben? Wer freilich kann auch sagen, ob nicht die, die sich eben an dem Anblick der Zerschmetterten weiden, morgen selbst Augenweide für einen neuen Zerschmetterer sind? Martin Hartmann.     

Blaumeisen im Bade. (Zu dem Bilde S. 677.) Unter den guten Kameraden aus der Vogelwelt, welche die Umgebung unserer Wohnstätten auch während des Winters beleben, übertrifft die kleine Blaumeise alle anderen durch Anmut und Zierlichkeit. Ein munterer Singvogel, der in der schöneren Jahreszeit draußen im Wald mit den anderen um die Wette fröhlich sein Lied pfeift, folgt er, wenn die anderen die weite Reise nach Süden antreten, in einfacherer Weise dem Zuge nach Wärme und siedelt sich in gutem Vertrauen auf die Gastfreundschaft des Menschen in Dorf und Stadt an, wo nur immer ein paar Obst- und Alleenbäume den Häusern benachbart sind.

Und wenn die Freigebigkeit der Bewohner eine anhaltende ist, so wird sich ein größerer oder kleinerer, aus verschiedenen Arten sich zusammensetzender Stamm die ganze rauhe Jahreszeit hindurch zu regelmäßigen Stunden am Fenster einfinden, um die ihnen gestreuten Brosamen dankbar zu verzehren. Aber dann, wenn der Frühling wiederkommt, da lösen sich diese Genossenschaften, welche die Not zusammengeschart, in Sippen und Pärchen auf und es geht munteren Fluges wieder hinaus in den Wald, wo erst der Besitz eines eigenen Nestes die gefiederten Sänger wiederum seßhaft macht. Die reinen Freuden, welche jetzt die Beobachtung der munteren Geschöpfe gewährt, belohnen dann reichlich die im Winter geübte Wohlthätigkeit. Eine Scene aus dem ersten Frühling, aus der Zeit der Schlehenblüte, führt uns die Künstlerin in dem beigegebenen Bilde vor, in dem sie eine kleine, der Natur abgelauschte Episode aus dem Vogelleben zu einem artigen, lebenatmenden Phantasiestück erweitert.

Das Interesse an der einheimischen Vogelwelt hat aber nicht nur seine ästhetische, sondern auch eine naheliegende praktische Seite. Gerade die Meisen gehören zu unsern wichtigsten und nützlichsten Insektenvertilgern, und schon aus diesem Grunde sollte die Kenntnis dieser überall verbreiteten Wohlthäter, die sich, wie erwähnt, vor allem am gastlichen Fenster mit Leichtigkeit erwerben läßt, wo es nur möglich ist, gefördert werden. Es sind vorzugsweise drei Meisenarten, welche sich bei uns mit Sicherheit als Wintergäste einfinden. Die größte unter ihnen, die Kohl- oder Spiegelmeise, ist durch die auffallende Zeichnung des Kopfes, welcher bis auf einen dreieckigen weißen Fleck unter dem Auge glänzend schwarz ist, sowie an einer die Mitte der gelben Unterseite durchziehenden breiten, schwarzen Längsbinde unzweideutig charakterisiert. Sie ist die stärkste unter den Meisen und zeigt sich auch am Fensterbrett als die gewaltthätigste, wie sie denn auch in ihrem sonstigen Leben, zumal im Verhalten gegen junge, schwache und kranke Vögel der eigenen oder anderer Arten, keineswegs einen tadellosen Leumund besitzt. Noch mehr als sie fesseln die beiden kleineren Arten, die Sumpf- und Blaumeise, den Beobachter durch ihr Aeußeres und ihr keckes, flinkes Wesen. Die erstere, die wegen ihrer schwarzen Kopfplatte nicht selten mit der schwarzköpfigen Grasmücke, dem „Schwarzkopf“, verwechselt wird, hat im übrigen ein einfach mäusefarbenes Gefieder, während die Blaumeise in ihrem lebhafteren Farbenschmuck als überaus anziehende Erscheinung auffällt: der Scheitel, ein Halsband, ein Teil der Schwungfedern und die Steuerfedern zeigen verschiedene Schattierungen von Blau, einer Farbe, die nur bei wenigen andern einheimischen Vögeln und niemals in so ausgiebigem Maße auftritt. Auf unserem Bilde tritt diese Zeichnung und nicht minder die zierliche Gestalt unserer Meise naturgetreu hervor. H.     

Die neue städtische Sparkasse in Berlin. (Zu dem Bilde S. 681.) Seit dem Jahre 1892 erhebt sich in Berlin auf den Grundmauern der alten städtischen Wassermühlen an dem seither wesentlich erweiterten Mühlendamme ein stattlicher Neubau. Zwar etwas kasernenartig nüchtern, aber doch recht eindrucksvoll schaut er über die neue breite Spreebrücke hinweg, zu deren Verbreiterung die alten Häuserbaracken des Mühlendammes mit ihren berühmten Trödelgeschäften fallen mußten. Jenes Gebäude ist die neue städtische Sparkasse, eine der segensreichsten Schöpfungen der an gemeinnützigen Anstalten gewiß nicht armen Reichshauptstadt.

Von ihrer Volkstümlichkeit kann sich derjenige eine Vorstellung machen, der am Ersten eines Quartals, etwa am 1. Januar oder 1. April, die Sparkasse besucht. Dichtgefüllt sind die weiten Räume mit Männern und Frauen jeglichen Alters und jeglichen Standes, die meisten den kleinbürgerlichen Familien, Handwerkern, Subalternbeamten, Handlungsgehilfen angehörend. Sie sind gekommen, um einen Teil ihrer Spareinlagen zu erheben, da ja am Quartalsersten zu Hause größere Geldbeträge gebraucht werden. Oft ist an solchen Tagen der Andrang zu den Zahlstellen so groß, daß die Leute nur truppweise eingelassen werden können, so geräumig das neue Gebäude auch ist. Es giebt da bereits zehn Zahlstellen, binnen kurzem soll eine neue eingerichtet werden. Denn die Anzahl der ausgegebenen Sparkassenbücher hat die 600 000 bereits überschritten. Die Gesamtsumme der Spareinlagen erreicht die Höhe von 165 Millionen Mark! Und jeder Erste des Monats zeigt, daß auch dauernd gespart wird, nicht bloß von einem Monat zum andern oder von Vierteljahr zu Vierteljahr; denn ein wesentlicher Teil der eingezahlten Ersparnisse bleibt in der Regel unerhoben.

Die Sparkasse nimmt von ein und derselben Person Einlagen bis zum Gesamtbetrage von 1000 Mark an, und schon von einer Mark ab, und verzinst sie zu einem Zinsfuß, der gegenwärtig 3% beträgt. Ueber die gemachte Spareinlage erhält der Zahler ein Sparkassenbuch, das er vorlegt, wenn er Geld zurückhaben will. Aber er bekommt nur bis zu 100 Mark innerhalb des ersten Monats ohne vorherige Aufkündigung zurück. Bei Erhebung eines Betrages bis zu 500 Mark ist eine zweimonatige, über 500 Mark hinaus eine vierteljährige Kündigung erforderlich. Doch werden, wenn der Besitzer eines Sparkassenbuchs die Dringlichkeit einer größeren Abhebung darthut, auch ohne vorherige Kündigung größere Beträge sofort bei der Vorlage des Sparkassenbuchs ausgezahlt. Mit dieser entgegenkommenden Handhabung der Paragraphen über die Rückzahlungsbedingungen will man es vermeiden, daß der Sparkassenbuchbesitzer im Falle einer augenblicklichen Notlage sich gezwungen sieht, sein Buch vielleicht mit Verlust einem dritten zu verkaufen oder zu versetzen. Daß die ganze Einrichtung vorzüglich dem minder Bemittelten zugute kommen soll, geht aus der Bestimmung hervor, daß in demselben Monat auf ein Sparkassenbuch nur höchstens zusammen 300 Mark zur Einzahlung gelangen können, und daß die Kasse größere Summen als 1000 Mark nicht mehr verzinst, sondern nur noch zinslos in Verwahrung nimmt. Andererseits hat der Sparende nicht die geringsten Unkosten, nicht die mindesten Gebühren oder dgl. zu bezahlen. Einzig wenn er das Sparen aufgiebt, den ganzen ersparten Betrag erhebt und sein Buch abliefert, werden ihm – 10 Pfennig abgezogen. An etwas muß er doch merken, daß er nicht recht daran thut, die Tugend der Sparsamkeit nicht mehr länger üben zu wollen.

Die Einzahlungen können außer in dem Gebäude der Sparkasse selbst auch an einer der 75 über ganz Berlin verteilten Annahmestellen erfolgen. Zwei der Kasse gehörige Fuhrwerke holen die Gelder von dort zweimal in der Woche ab. So finden auf der Sparkasse am Mühlendamm fast nur die Auszahlungen statt. Das charakteristische Treiben, das sich dort täglich von 9 bis 2 Uhr entwickelt, ist auf unserem Bilde von dem Maler Kiekebusch anschaulich wiedergegeben.

Irrlicht. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wie die gespenstische Erscheinung des Irrlichts bald unruhig hin und her über dem moorigen Boden seines Ursprungs hüpft, bald wie festgewurzelt an eine Stelle gebannt oder langsam in bestimmter Richtung über das grüne Sumpfwasser hinschwebend angetroffen wird, so hat auch die Sage seiner menschlichen Verkörperung sehr verschiedenartige Gestalt gegeben. Von dem Aberglauben, daß die Irrlichter böse Geister seien, welche verführerische Gestalt annehmen, um den Wanderer von der Straße ab in den Sumpf zu locken, wo er ihnen nachstrebend elend untergeht und ihrer Macht verfällt, ist grundverschieden der andere, welcher in den Irrlichtern die Seelen ungetaufter Kinder erblickt. Wieder eine andere Auffassung sieht in den rätselhaften Lichterscheinungen, deren mutmaßliche Erklärung darin besteht, daß sich die den Fäulnisstoffen der Moräste entströmenden Gase an der Luft selbst entzünden, die abgeschiedenen Seelen solcher, die keines natürlichen Todes starben. Eine solche arme Seele ist auch der Gegenstand der poetischen Vision, welche unsere diesmalige Kunstbeilage darstellt. Ein tiefer Gram lastet auf den Zügen des schönen bleichen Mädchens, das, die Hände reuevoll über der Brust gekreuzt, die Augen starr ins Weite gerichtet, über den dunklen Weiher stumm und langsam dahinschwebt. Ein ähnliches Bild hat Goethe gezeichnet, als er im „Faust“ in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg den Geist Gretchens vor das Auge des mit den Hexen tanzenden Faust heraufbeschwor: „Sie schiebt sich langsam nur vom Ort, sie scheint mit geschlossenen Füßen zu gehen.“ Ein Zauberbild, von dem Mephistopheles sagt: „Ihm zu begegnen ist nicht gut; vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut.“


manicula0 Hierzu Kunstbeilage XI: Irrlicht. Von Otto Lingner.

Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (4. Fortsetzung). S. 669. – In der Oper. Bild. S. 669. – Die letzten Rebellen. Bild. S. 672 und 673. – Ein entführtes Herzogskind. Von Eduard Schulte. S. 675. – Blaumeisen im Bade. Bild. S. 677. – Die Sklaven. Novelle von Ernst Eckstein. S. 680. – In der neuen städtischen Sparkasse zu Berlin. Bild. S. 681. – Deutsche Städtebilder. Arolsen. Von J. Schwabe. S. 684. Mit Abbildungen S. 684, 685, 686 und 687. – Blätter und Blüten: Der „Kleine Vermittler“ der „Gartenlaube“. S. 687. – In der Oper. S. 687. (Zu dem Bilde S. 669.) – Die letzten Rebellen. Von Martin Hartmann. S. 687. (Zu dem Bilde S. 672 und 673.) – Blaumeisen im Bade. S. 688. (Zu dem Bilde S. 677.) – Die neue städtische Sparkasse in Berlin. S. 688. (Zu dem Bilde S. 681.) – Irrlicht. S. 688. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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