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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

und Büschen halb versteckt ist, hat er das Licht der Welt erblickt; längst ist das Haus zu einem Stift für unbescholtene arme alte Mädchen umgewandelt, auf dem Rasenplatz aber, der sich bis zur Straßenlinie vorzieht, steht, von einem Arolsener Landsmann gefertigt, die Büste des großen Bildhauers.

Rauch ist nicht die einzige Berühmtheit, welche Deutschlands kleinste Residenz hervorgebracht hat. Da ist der Dichter Stieglitz, am 22. Februar 1803 zu Arolsen geboren, dessen Name durch das tragische Ende seiner Gattin Charlotte noch mehr bekannt geworden ist als durch den Erfolg seiner Dichtungen; da ist ferner Marie Calm, die eifrige Verfechterin der Frauensache, deren Bild die „Gartenlaube“ erst kürzlich ihren Lesern vorgeführt hat (Nr. 15 dieses Jahrgangs); der Maler Ludwig Blume-Siebert, ebenfalls den Lesern der „Gartenlaube“ wohl bekannt durch manches gelungene Bild; da sind vor allem die Kaulbach, Friedrich, der Vater von Fritz August, und der große Wilhelm, der in München zu unsterblichem Ruhme gelangt ist. Etwas stattlicher als das Christian Rauchs ist das Kaulbachsche Haus in der Kreuzstraße, heute noch im Besitze der Familie, der der große Meister entstammt. Gerne wird dem Fremden gestattet, das Innere zu besichtigen, und er findet an den Wänden eine ganze Reihe von Nachbildungen berühmter Werke Wilhelm von Kaulbachs, die der Künstler hierher gestiftet hat, Goethe auf der Eisbahn, Ottilie mit dem toten Kind im Kahn, die Schwestern von Sesenheim u. a., und auch das Bild des Meisters selbst blickt aus der Mitte seiner Schöpfungen gar ernsthaft auf den Beschauer hernieder.

Das fürstliche Residenzschloß.
Vorder- und Rückansicht.

Nun von dem stillen Hause in der Kreuzstraße zurück auf die große Allee, die uns zur Stadt geführt hat. Wir wandern weiter auf dem kiesbestreuten Mittelweg, links geleitet von mauergeschützten Gärten, die zu den Häusern der Hauptstraße gehören, rechts von einem prächtigen dunkelnden Park hinter niedrigem Zaun. Jetzt durchschneidet eine breite Fahrstraße die Allee und eröffnet uns mit einem Mal einen überraschenden Ausblick auf das an ihrem unteren Ende gelegene fürstliche Schloß. In vornehmer Ruhe liegt das mächtige Gebäude da; die Sonne spiegelt sich blitzend in tausend Scheiben, zirpend schießen die Schwalben über die blauen Schieferdächer; an den Mauern klettert üppiger Epheu empor, dessen Ranken die beiden Wachthäuser am Eingang schon ganz und gar eingesponnen haben. In den Jahren 1710 bis 1720 ward der Bau errichtet nach Plänen, die der kunstsinnige Graf Anton Ulrich von Waldeck, seit 1712 Reichsfürst, eigenhändig entworfen hatte; in seinem Innern birgt er ansehnliche Schätze der Kunst und Wissenschaft, Gemälde von West, Angelika Kauffmann, Tischbein u. a. eine Bibliothek von 30000 Bänden und eine reichhaltige Antikensammlung, das Werk jenes Prinzen Christian von Waldeck, mit welchem Goethe einen Teil seiner italienischen Reise gemacht hat und der von diesem das Zeugnis eines „vollkommenen und unterrichteten Fürsten“ ausgestellt erhielt.

„Waldeck!“ Der Name ist nicht ohne Bedeutung, auch an dieser Stelle, denn fast unmittelbar stößt das Schloß an herrlichen Buchen-. und Tannenwald. Die alten Herren von Waldeck haben mit der Anlage von Alleen einen förmlichen Luxus getrieben, nach allen Seiten umziehen solche das Schloß mit ihren breiten, von Akazien, Linden, Ulmen oder Kastanien beschatteten Bahnen. Ein schöner Natursinn spricht auch aus dem prächtigen Park mit seinem tiefen Grün und dem stillen Teich, auf dem die Wasserrosen schwimmen und die Schwäne lautlos ihre Bahn ziehen über das Spiegelbild des alten Schloßbaus. Auch des „Schlößchens“ oder „Neuen Schlosses“ dürfen wir nicht vergessen, das zu verschiedenen Zeiten waldeckischen Fürstinnen als Witwensitz gedient hat.

Arolsens Stolz und köstlichster Besitz sind die Waldberge, die es umgeben und durch die man auch im Hochsommer stundenlang wandern kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dabei öffnen sich auf Schritt und Tritt entzückende Aussichten über Landschaftsbilder von zartem idyllischem Reiz, über Wiesenthäler mit silberklaren Flüßchen, stillen Dörfern und einsamen Mühlen.

Um Durst und Hunger braucht der Wanderer sich nicht zu sorgen. Geht es auch in den dörflichen Krügen um Arolsen recht einfach zu, ein kühler Trunk und ein Bissen Brot nebst saftigem Schinken findet sich überall, und bei der Frau Hoffischerin drunten im Fischhaus, das in lauschiger Einsamkeit mitten im Walde liegt, ist gar ein gutes Weilen bei Speis’ und Trank und herrlichem Ausblick bis hinüber zu den fernen blauen Hessenbergen. Gern besucht wird auch der fürstliche Tiergarten, der sich viele Stunden weit erstreckt und in leichter Umzäunung eine Menge Wild birgt. In diesem Tiergarten, dessen Forsthäuser romantischen Gemütern als der entzückendste Aufenthalt erscheinen mögen, liegt der sagenumwobene Markusstein, auch kurzweg „Markstein“ genannt. Von der einen Seite leicht zugänglich, so daß man fast unmerklich die Kuppe erreicht, stürzt er nach der andern schroff in schwindelnde Tiefe ab; düstere Höhlen auf halber Höhe der Felswand, an der jetzt eine in den Stein gehauene Treppe hinaufführt, sollen einst einem alten Eremiten zum Aufenthalt gedient haben. Damals, erzählt man, war der Platz vor dem Felsen dicht verwachsen, himmelaufstrebende Baumriesen verdeckten völlig den tiefen Absturz. Einmal nun geschah es, daß der Fürst bei der Verfolgung eines Hirsches ahnungslos bis dicht an den Rand der Klippe sprengte; spurlos verschwand das gehetzte Tier – um eines Haares Breite, und der nachsetzende Reiter wäre samt seinem Roß in die Tiefe gesprungen. Sein treuer Hund aber hatte die Gefahr bemerkt, laut bellend trieb er das Pferd zurück und stürzte dann selbst in den Abgrund. So ward nach der Sage der Felsen entdeckt. Im Park des Neuen Schlosses zu Arolsen aber befand sich noch vor nicht allzulangen Jahren ein bescheidener Stein, auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_686.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2023)