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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

hatte ihn ausgewählt. Wie aus weiter Ferne hörte ich bei Tafel die Trinksprüche und das Hochrufen, und wie ein Stich ging es mir durchs Herz, als der alte bekannte Lohndiener, der bei keiner Westenberger Festlichkeit fehlte, mir mit seiner weinheiseren Stimme ins Ohr flüsterte: „Frau Wollmeyer läßt das gnädige Fräulein bitten – –“ Um was, verstand ich nicht. Frau Wollmeyer! Das Wort hatte mir fast körperlich weh gethan. Ich kenne keine Frau Wollmeyer! hätte ich am liebsten geschrien. Ach Papa! Papa! Und ein Schluchzen hob meine Brust, das ich kaum zu unterdrücken vermochte. Ich hätte auch Mama nicht Lebewohl sagen können. Ich stahl mich nach Beendigung des Mahles aus dem Saal, obgleich mich mein Nachbar, der Herr von Brankwitz, flehentlich um den ersten Walzer bat.

Es war mir schon von vornherein ärgerlich gewesen, daß er mein Kavalier sein sollte auf dieser Hochzeit, aber die Komtesse hatte erklärt, es sei das einzig Richtige, daß die Tochter der Braut und der Neffe des Bräutigams zusammen hinter dem Brautpaar gehen, und ich schwieg. Er hatte mich in einem Wagen zur Kirche abgeholt, in tadellosem Frack und weißer Weste, hatte mir einen wundervollen Strauß überreicht aus Marschall Niel-Rosen, die zu meinem Kleide von blaßgelber weicher Seide paßten, als wären sie eigens nach der Stoffprobe gewachsen, und er lobte diese seine Gabe so sehr, wie wenn er selber der Schöpfer der wunderbaren Blüten gewesen wäre.

Als ich den Saal verlassen wollte, kam er hinter mir her mit seinem faden Lächeln und seinen dreisten Blicken. Ich verstand gar nicht, was er sagte, und warf ihm die Thür der Damengarderobe vor der Nase zu, suchte eiligst nach einem Umhang, nahm ein Spizentuch um, das der Komtesse gehörte, und lief über den Hof des Gasthauses in den dazu gehörigen Garten. Von ihm führte eine Thür in der alten Stadtmauer unmittelbar auf die bescheidene Promenade, und an diese grenzte der Kirchhof; von dem Kirchhofe aber konnte ich durch ein Privatpförtchen in den Garten der Komtesse gelangen.

Die Dämmerung des Septembertages war schon herabgesunken; kein Mensch außer des alten tauben Totengräbers Frau sah mich, wie ich hastig dahinschritt zu Papas Grab. Und da stand ich, das Herz voll Jammer, und konnte doch nicht weinen und sah die Stelle neben ihm an, wo Mama einst ruhen wollte – sie hatte so oft davon gesprochen, und nun, nun hatte sie dies Recht verwirkt! Die Monatsrosen und die Reseden dufteten so stark, von St. Marien läuteten sie zu Abend. Eine herbstlich müde Stimmung war in der Natur. Ach, wenn ich doch auch schlafen könnte, schlafen, um nie wieder zu erwachen, hier neben Papa!

Dort hinten ruhte auch Hannchen, und von ihrem Grabe leuchtete es bunt herüber, lauter frische Blumen. Die Base hatte wohl das Grab geschmückt, als könnte sie dadurch die Tote versöhnen mit dem, was heute geschah. An Papa hatte keiner gedacht, aber es war gut so, mochte er nur schlafen, schlafen, damit er nicht merkte, daß seine vergötterte Frau – mein Gott, er würde tausend Tode sterben, wenn er das wüßte! Meine arme Mutter – Frau Wollmeyer!

Auf einmal hörte ich lautes Sprechen und Tritte weit oben vom Eingang her; ein Trupp Menschen bewegte sich der Leichenhalle zu. Ich war emporgefahren aus meiner knienden Stellung, ein Frösteln rann mir über den Körper, ein unbekanntes schreckliches Grauen. Ich nahm mein Kleid zusammen und ging, so rasch ich konnte, der Gartenpforte der Komtesse zu. Dort stand die alte Dienerin der Tante und spähte mit blassem neugierigen Gesicht zu dem Totenhause hinüber.

„Gott, gnädiges Fräulein,“ stammelte sie, bin ich erschrocken – Sie stehen ja da wie ein Geist!“

„Was ist denn das dort drüben, Josephine?“ fragte ich und deutete mit dem Kopf nach den Menschen hinüber.

„Ach, es ist es ist was Trauriges, gnä’ Fräulein, die Knopfmarthe hat sich im Teich ertränkt; im Schloßgarten hat man sie herausgezogen, vorhin.“

Ich schob mich an ihr vorüber, vor Entsetzen keines Wortes mächtig. Das Herz, an das ich hätte flüchten können in der zitternden Angst vor diesen dunkeln Geheimnissen, das war nun fern, das gehörte ihm, ihm, der das junge Weib in den Tod getrieben, das Kind zur Waise gemacht hatte! Wie wahnsinnig rannte ich ins Haus, in mein Zimmer und wühlte den Kopf in die Kissen des Bettes, als könnte ich mich verbergen vor den unverständlichen Erbarmungslosigkeiten des Lebens. – 000000000000000000000

Die Komtesse fand mich in einer dumpfen Verzweiflung, schalt, weil ich fortgelaufen war, und küßte mich, weil ich so hübsch ausgesehen habe. Und jetzt sei sie meine Mutter, sie habe es versprochen und sie würde sehr böse sein, wenn ich nicht vernünftig wäre, mich auskleidete wie andere Leute mit gesunden fünf Sinnen und schlafen ginge. Und Mama lasse grüßen und der – –

Ich fuhr aus den Kissen empor mit geballten Fäusten. „Nein, ihn nicht! Nenn’ ihn nicht!“ tobte ich.

„Um Gotteswillen, Anneliese!“

„Ich haß’ ihn, o ich haß’ ihn!“

„Das ist recht hübsch von Dir,“ sagte die Komtesse trocken. „Wem verdankst Du es denn, daß Du durch Deine schwere Krankheit gekommen bist, Du wilde Katze, Du? Einzig ihm! Oder glaubst Du, daß Deine Mama allein imstande gewesen wäre, Dir auch nur den hundertsten Teil jener Pflege angedeihen zu lassen?“

Jetzt stand ich vor ihr, unfähig, mich zu beherrschen. Ich hatte es wohl geahnt, daß Mama seine Hilfe in Anspruch genommen hatte in ihrer Verlegenheit, in ihrer Sorge um mich, ich ahnte, daß er dafür den höchsten Preis, sie selbst, gefordert. Aber noch war es nicht ausgesprochen worden, noch hatte die Gewißheit „Um Deinetwillen!“ mich nicht so hart gepackt als bei diesen Worten der Komtesse. Es giebt Menschen, die das Erkennen einer schrecklichen Wahrheit zur Raserei bringt; meiner Worte nicht mehr Herr, rief ich: „Warum soll ich schuld sein an so viel Unglück, an all dem Elend meiner Mutter? Er ist ein Mörder, Tante, er ist –“

„Du bist verrückt, Anneliese!“

„Er ist ein Mörder, Tante!“ schrie ich von neuem, „er hat die Knopfmarthe gemordet!“

„Aber Kind! Aber Anneliese!“ Sie stotterte indes doch und sah mich unsicher an.

„Sie ist um seinetwillen ins Wasser gegangen,“ fuhr ich fort.

„Ins Wasser gegangen, sagst Du?“

„Ja seinetwegen.“

„Ach papperlapapp! Die Knopfmarthe wird ins Wasser gehen!“

„Ich lüge nicht! Sie ist hineingegangen, ist tot.“

„Was kann denn Dein Stief – –“

„Tante!“

„Was kann denn Herr Wollmeyer dafür? Sei nicht thöricht! Die Knopfmarthe ist immer eine überspannte Person gewesen; Gott weiß, warum die –“

„Ich weiß es, warum, ich weiß es!“ sagte ich erschöpft. „Ach, meine Mama!“

„Jetzt gehst Du zu Bett, dumme kleine Kröte,“ antwortete die Komtesse und fing an, mir höchst eigenhändig beim Auskleiden zu helfen, und dabei schalt sie, halb ärgerlich, halb zärtlich, um ihre Angst über meine Aufregung zu verbergen. „Wie ein Kind beträgst Du Dich! Dem Mann Deiner Mutter ziehst Du Gesichter, als seist Du fünf Jahre alt: es fehlte nur noch, daß Du ihm die Zunge herausgestreckt hättest! Deinem Brautführer antwortest Du nicht, sondern sitzest da, als wärst Du taubstumm. Dann sagst Du nicht einmal Deiner Mutter Lebewohl, läufst vom Tanz fort, so daß der Brankwitz herumirrt und Dich wie eine Stecknadel sucht und alle Welt anschreit, ob man Dich nicht gesehen habe!“

Ich zuckte die Achseln. Wie konnte sie von so unwichtigen Dingen reden? Sah sie denn nicht, daß ich zitterte vor Empörung? „Dieser Brankwitz ist ein gräßlicher Mensch!“ stieß ich hervor.

„So?“

„Und ich kann ihn nicht leiden.“

„Du kennst ihn ja kaum, Anneliese! Die paar Mal –“

„Er ist sein Neffe –“

„Das genügt?“

„Ja, das genügt.“

„Nun, das wird ja ein himmlisches Zusammenleben später bei Euch Dreien! Deine arme Mutter!“

„Ich will immer gut sein gegen Mama.“

„Ich sehe es kommen, sie lebt künftig zwischen zwei Feuern.“

„Ich bleibe nicht bei ihr; ich werde wieder gesund, und dann – –“ In diesem Augenblick mußte ich meine Worte Lügen strafen, denn mich überfiel ein kurzer, aber heftiger Husten, und das brachte die Komtesse außer sich.

„Da haben wir’s, Du dummes Ding!“ rief sie; das kommt von Deinem Toben! Jezt wirst Du ruhig zu Bett gehen, wirst Dich ganz still verhalten und Gott danken, daß er Dir ein Heim gegeben, Du schlimmes böses Gör Du!“

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