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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Schritte über den Flur, die Thür ging auf. Ein frisch und heiter aussehender Mann von etwa fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahren trat ins Zimmer, und hinter ihm – aber da schnellten wir doch nicht schlecht von unseren Sitzen in die Höhe – hinter ihm eine allerliebste junge Frau im zierlichsten Morgenkleide, beide lachend und vergnügt die späten Gäste anguckend.

Das so meuchlings besuchte Ehepaar benahm sich tadellos – einfach tadellos. Beide zeigten sich sofort als Leute von Genie, die einen tollen Streich zu würdigen wissen, und zugleich als Leute von bester Erziehung – zwei Vorzüge, die sich selten genug bei einander finden. Man hieß uns mit der größten Liebenswürdigkeit willkommen, gerade als wenn wir seit vierzehn Tagen dringend auf eben diese Stunde eingeladen gewesen wären, keines fragte auch nur mit einem Wort, was denn dieser Ueberfall bei Hochkirch eigentlich zu bedeuten hätte. Wir waren sofort im besten Plaudern drin und begannen uns riesig gemütlich zu fühlen.

Nach einer Weile erhob sich die junge Frau. ,Nun sollen aber die Herren doch ein Glas Wein haben!‘ sagte sie und griff nach dem Schlüsselkörbchen. Aber da wurde ich energisch. ,Nein,‘ sagte ich, ‚das geht nicht – das leid’ ich nicht! Daß wir hier noch mit Trank und Speise erquickt werden, die ganze Haushaltung auf den Kopf stellen und nicht einmal eine Erklärung darüber geben, was uns eigentlich hierher geführt hat und wie die Sache kam – das kann ich nicht verantworten!‘

Und nun erzählten wir denn mit lauter schlechten Witzen, immer einer den andern überbietend, unser Abenteuer und die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘, kurz wir leisteten das Menschenmögliche in farbenprächtigen Beschreibungen der bildhübschen Nichte und der schrecklichen Tante mit dem einen Vorderzahn.

Während wir noch so erzählten und schwatzten, bemerkte ich, daß unsere Wirte sich immer verstohlen zuplinkten und lächelten, und als Solten, der sich vorzüglich aufs Nachahmen verstand, die Scene, wie die Alte ihn anschnurrte, so recht packend vorführte, da lachte die junge Frau hell auf. ,Ja, so macht sie’s, so kann ich mir sie lebhaft vorstellen! O, sie ist’s, es ist unsere Tante Aurelie mil Ilse – da giebt’s gar keinen Zweifel mehr!‘

‚Tante?‘ stammelten wir verlegen, mit erbleichten Gesichtern; wir hätten nun natürlich am liebsten alles zurückgenommen, was wir in den letzlen vierzehn Tagen gesagt hatten und in den nächsten sagen würden – aber es war zu spät! ‚Tante!‘ wiederholte ich tonlos.

,Ja, Tante!‘ fiel der Hauptmann herzhaft lachend ein, Tante und Cousine von uns sind jene beiden, die Ihr angeödet habt, und bei uns ist die beste Auskunft über sie zu holen, denn sie sind hier ganz in der Nähe auf ihrem Gut zu Hause.‘

Solten hatte sich inzwischen schon wieder gefaßt ,Nun,‘ sagte er, ,das ist ja ein Wink des Himmels! Mir blutete ohnehin seit gestern abend schon das Herz, daß ich von der reizenden jungen Dame nichts mehr hören und erfahren sollte – von der Tante ganz zu schweigen – da kann ich wenigslens eine leise Hoffnung haben, sie ’mal wieder zu sehen!‘

Unsere Wirte hatten inzwischen ein paar Worte miteinander geflüstert, und die junge Frau wurde immer eifriger und nickte. ,Hört ’mal, Ihr Herren,‘ begann der Hauptmann, ,meiner Frau kommt ein gescheiter Gedanke!‘

,Wie nicht anders zu erwarlen war!‘ schaltete ich galant ein, während Solten nur gespannt auf den Sprecher sah.

‚Also – wir sind morgen oder besser heute abend zu einem Tanzfest bei der besagten Tante eingeladen –‘

,Und händeringend gebeten, noch ein paar flotte Tänzer mitzubringen?‘ rief Solten atemlos.

,Nun, das nicht gerade, aber wenn wir sie mitbrächten,‘ meinte die junge Frau, ,so wolllen wir schon sehen, wie sich die Sache weiter macht!‘

,Morgen ist Sonntag, da ließe es sich ja auch mit dem Urlaub machen,‘ schob der Hauptmann überredend ein.

Ich schüttelte den Kopf. ‚Solten,‘ sagte ich feierlich, ,das ist undenkbar. Nach Deinem bodenlosen Betragen von gestern abend willst Du der ehrwürdigen Anverwandten dieses gastlichen Hauses noch in ihr Tanzfest hineinplumpsen – das würde denn doch der Geschichte die Krone aufsetzen!‘

‚Sie läßt Sie am Ende gar nicht herein!‘ meinte der Hauptmann lachend.

‚Das sei meine Sorge!‘ erwiderte Solten unbekümmert, ‚die Damen erkennen mich entschieden nicht wieder –‘

,Auch meine Cousine Ilse nicht?‘ fragte unsere junge Wirtin schelmisch.

‚Das wäre allerdings tief schmerzlich, aber in diesem Falle ganz praktisch,‘ meinte Solten lachend; ‚im übrigen verlasse ich mich auf meine angeborene Liebenswürdigkeit und Unverschämtheit –‘

‚Die hast Du, das weiß Gott!‘ seufzte ich.

,Ich bin schon mit anderen Leuten fertig geworden wie mit einer alten Tante,‘ schloß Solten mit einem höchst fidelen Gesicht. ,Also, wenn wir mitkommen dürfen – sollen – können – ich wag’s!‘

,Und jetzt gehen wir in den Gasthof und lassen die Herrschaften endlich zur Ruhe kommen,‘ ergänzte ich und erhob mich.

,Ja – ins Gasthaus ‚Odenstern‘!‘ sagte der Hauptmann. ‚Macht doch keine Geschichten, Kinder! Unsere Gaststube ist, wie ich meine vorzügliche Hausfrau kenne, in zehn Minuten fertig – und wir fahren morgen abend alle zusammen zu unserer Tante!‘

Nun wurde unter Lachen und Fidelität das Nähere beschlossen, der Bursche mit dem Frühzug nach Berlin geschickt, um uns unsere Uniformen zu holen, und der Feldzugsplan für den anbrechenden Tag gemacht. Solten war in den paar Stunden des Beisammenseins schon wieder zum Schoßkind bei unserer Wirtin geworden, und als wir uns endlich in die behagliche Gaststube begaben, hatten wir das Gefühl, als seien wir mit Odensterns nicht drei Stunden, sondern drei Jahre bekannt. Wie das so absonderlichen Situationen eigen ist, daß sie die Leute rasch einander nahe bringen – wenn die Leute eben danach sind!

Nach der durchwachten Nacht schliefen wir allseitig bis tief in den Tag hinein. Zu Mittag kam der Bursche mit unseren Uniformen an, und gegen Abend saßen wir als sehr vergnügtes vierblätteriges Kleeblatt in der Eisenbahn und fuhren unserem Abenteuer entgegen. Solten, der Hauptattentäter, wieder so unbefangen und ausgelassen wie möglich – wir alle fest entschlossen, uns in jedem Fall herrlich zu amüsieren – mit der Tante oder über die Tante, wie es eben kommen mochte. Unterwegs erzählte man uns noch, daß die Tante ein altes Fräulein, die bei ihr lebende Nichte eine Waise sei – ein nicht nur bildhübsches – das wußten wir ja! – sondern auch sehr liebes und gutes Mädchen, die gut tanze, gut reite, gut plaudere, kurz alle Vorzüge und noch ein paar mehr in sich vereinige.

An der Station erwartete uns ein elegantes Gefährt, denn Odenstern hatte von K. aus telegraphiert. ‚Bringe noch zwei Tänzer mit!‘ Wir fuhren in schlankem Trabe durch den Abend dahin und hielten vor dem Gutshause, ehe wir es gedacht hatten. Die Gesellschaft war schon vollzählig versammelt, als wir eintraten. Die gefürchtete Tante, die als Wirtin Cercle hielt, nahm sich in einem lawendelfarbigen Gewande ganz menschlich aus, die Nichte im Ballslaat noch viel bezaubernder als gestern im Reisehütchen. Wir beide, Solten und ich, wechselten nur ein leises, aber bedeutungsvolles ‚Donnerweller!‘ bei dem Anblick – und dann kam der große Augenblick der Vorstellung.

Solten, in der vollen Pracht seiner Uniform, mit einem so feierlichen Gesicht wie ein spanischer Grande, der Tante die Hand küssend – das war ein Anblick, bei dem man kaum ernsthaft bleiben konnte. Die Tante, die erst in allgemeiner Menschenliebe und Gastfreundlichkeit ihn holdselig angelächelt hatte, stutzte, als sie ihn genauer ansah, wetzte den Zahn, warf einen wilden Blick um sich und schien sich zu besinnen. In dem Augenblick war Solten aber auch schon zurückgetreten, um die Nichte Ilse zu begrüßen. Diese besann sich nun ganz entschieden auf ihn; sie bekam einen roten Kopf erster Güte, wollte sehr würdig und abweisend aussehen, konnte es aber nicht übers Herz bringe, und ich sah mit Staunen und Grauen, wie Solten sie gleich en gros engagierte – und wie sie – o Weiber, Weiber! – immer nickte und nickte und in ihre Tanzkarte kritzelte. Ich dachte bei mir: ‚Die beiden werden schon miteinander fertig werden!‘, war auch nach zwei Minuten zu der Ueberzeugung gekommen, daß Fräulein Ilse sich eher würde von vier wilden Pferden zerreißen lassen, ehe sie den ‚verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ verraten hätte.

Ich übernahm demnach mit gewohnter Herzensgüte die Rolle der zweiten Violine, machte mich an die Alte heran, die mir gegenüber nichts ahnte, und war bestrebt, ihr den Beweis zu liefern, daß ihre ungebetenen Gäste ganz nette Leute wären.

In den Pausen belustigte ich mich mit Odensterns über die fortschreitende Vertraulichkeit zwischen Solten und der hübschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_663.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)