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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

,Wir wollen am Schlesischen Bahnhof aussteigen,‘ bringe ich ganz schüchtern vor.

Da grinst der Schaffner. ,Ja, das thut mir sehr leid, das müssen Sie schon morgen besorgen,‘ meint er. ‚Das hier ist der Eilzug, der hält zum erstenmal in K. heut’ nacht um zwei Uhr.‘

Na, das war ja eine allerliebste Geschichte! Nicht genug, daß wir die Karten bis K., wo wir auf Gottes Welt nicht das mindeste zu suchen hatten, nachlösen mußten, nicht genug, daß wir in unseren dünnen Civilanzügen die kalte Nacht hindurch spazierenfahren mußten - nein, obendrein hatten wir in K. nach Angabe des Schaffners vier Stunden Aufenthalt und konnten diese dazu anwenden, fern von Madrid über unser und anderer Leute Schicksal nachzudenken. Wirklich eine liebliche Aussicht! Wer sich einigermaßen in unsere Lage hineinzudenken vermag, der wird begreifen, daß ich, der so ganz unschuldig in diese Patsche gekommen war, vor Aerger zischte wie glühendes Eisen, auf das man Wasser spritzt. Kaum war der Schaffner wieder im nächtlichen Dunkel verschwunden, so hagelte es auf meinen armen Freund mit ‚Siehst Du’s‘ und ‚Das kommt davon!‘

Solten ließ denn auch ziemlich kleinlaut den Kopf hängen, ein recht ungewohnter Zustand bei ihm. ,Ich kann doch nichts dafür, daß der Zug nicht hält,‘ meinte er ganz gedrückt.

,Ach was!‘ sagte ich, schon wieder halb versöhnt, denn so eine richtige Wut tobt sich am schnellsten aus, wenn das Gegenüber sich drein ergiebt, ,ach was, als verstorbener Bahnhofsinspektor mußt Du doch wenigstens um die Züge Bescheid wissen!‘ Na, mit dieser Erinnerung war der Friede wieder hergestellt und wir fuhren, wenn auch nicht mehr sehr übermütig, doch still gefaßt, unserem unbekannten Schicksal entgegen und – froren. Solten that zwar von seinem Standpunkt als Anstifter aus, als wenn es Julihitze gewesen wäre, ich aber klapperte so recht hörbar und vorwurfsvoll, damit ihm doch das Gewissen noch etwas schlagen sollte.

Endlich, endlich hielt das keuchende Ungeheuer von Zug. Wir stiegen aus und waren beide so eingenommen von unserer Weltumsegelung wider Willen, daß wir den eigeutlichen Grund und Zweck der blödsinnigen Fahrt - die Alte und die Junge - ganz vergessen hatten und sie, die schwer genug gerächt waren, ruhig weiter in die Welt sausen ließen. Da standen wir in dem kleinen Nest nachts zwei Uhr auf dem leeren Marktplatz in der Nähe des Bahnhofs und sahen uns an. Die ganze Stadt schlief natürlich; alles war so totenstill, wie es nur in einem solch kleinen Orte sein kann, wo ,der Schöppleinschlürfer Reih’!‘ schon um acht Uhr nach Hause geht und um Zehn die Lichter ausbläst. Wenn wir beide besondere Neigung verspürt hätten, die Daumen umeinander zu drehen, so stand diesem Zeitvertreib für die nächsten vier Stunden nichts im Wege, ja es schien das einzige, was wir mit einiger Aussicht auf Erfolg betreiben konnten.

‚Ob es einen Gasthof in K. giebt?‘ Mit diesen bedeutungsvollen Worten brach ich nach einer Weile das bange Schweigen.

,Hoffen wir!‘ sagte Solten lakonisch.

,Aber wo?‘ fragte ich ebenso.

Er zuckte die Achseln. ,Das mag der Himmel wissen!‘

Der Himmel, wenn er es wußte, verriet es aber nicht; er äußerte sich uns in anderer, wenig angenehmer Weise, indem er seine Schleusen öffnete und ohne vorherige Anfrage, ob es uns passe, einen eiskalten Platzregen auf unsere Häupter niederbrausen ließ.

,Hör’ ’mal!‘ sagte ich, ,wenn das jetzt noch lange so fortgießt, gehe ich ins Asyl für Obdachlose – thu’ Du, zu was Du Lust hast!‘

Da kam es plötzlich trapp – trapp – trapp mit dem eigentümlich dröhnenden Ton, den Menschenschritte in völlig leeren Straßen haben, auf uns zu. Das einzige Wesen, das zu dieser Stunde in K. Daseinsberechtigung zu haben schien, zeigte sich – der Nachtwächter. Er betrachtete uns mit gerechtem Erstaunen und entschiedenem Mißtrauen und schien die größte Lust zu haben, sich bei uns zu erkundigen, ob wir etwa irgendwo einbrechen wollten. Ich überlegte eben, ob ich nicht mit lieblicher Gebärde mich ihm nähern und ihn nach dem ersten und einzigen Gasthof des Ortes fragen sollte, da kam mir der unverwüstliche Solten zuvor. Er zeigte mit seinem gewinnendsten Lächeln an dem Hause hinauf, vor dem wir eben standen. ‚Sagen Sie ’mal, hochverehrter Freund, wer wohnt denn da oben?‘ fragte er.

‚Da oben?‘ wiederholte der Angeredete und sah uns wieder prüfend vom Scheitel bis zur Sohle an, ,da wohnt der Hauptmann Odenstern.‘

,Was? Der?‘ Solten fuhr auf mich los. ,Nun sind wir gerettet, Vahlberg – den kenne ich, das ist ein guter Freund von mir! Den besuchen wir!‘ Und schon hatte er den Wächter dazu vermocht, daß der ihm die Hausthür aufschloß.

Ich schrie fast vor Angst. ‚Solten, Solten, Du bist wohl nicht recht gescheit!‘ rief ich, während er trotz der Dunkelheit die Treppe schon in großen Sätzen hinaufrannte. ,Du kannst doch den Mann unmöglich nachts um zwei Uhr besuchen!‘

Solten lachte seelenvergnügt. ,Gestern mittag um Zwölf wäre es freilich für ihn und für mich bequemer gewesen, aber das kann ich nicht ändern. Und wenn zwei so furchtbar nette Kerls wie wir zu Besuch kommen, da freut man sich auch nachts um Zwei. Ich besuche ihn!‘

Nun wurde es mir aber zu bunt. Ich setzte mich als gebrochener Mann auf den Treppenabsatz. ‚Nein‘ sagte ich, ,alles hat seine Grenze! Mach’ Du Deine Dummheiten fortan allein – ich gehe nicht mit! Der Mann wirft uns ja die Treppe hinunter, und das wäre noch duldsam von ihm!‘

,Fällt ihm gar nicht ein!‘ tröstete Solten und blieb stehen, um sich nach mir umzusehen. ,Er freut sich diebisch, paß auf! Wo werd’ ich mir denn die Gelegenheit entgehen lassen, einem Mitmenschen auf so billige Weise eine Freude zu machen! So bin ich nicht. Komm Du nur mit!

,Es giebt so viele Odensterns in der Armee,n‘ klagte ich, ,wenn es nun der gar nicht ist, den Du kennst!‘

,Ach was,‘ sagte Solten verächtlich, ,das ist ja Unsinn! Er muß es einfach sein, er wird gar nicht gefragt. Ich falle ihm direkt um den Hals. ,Freund meiner Kindheit!‘ Was will er da machen? Es flammte ein Streichholz auf und bim, bim scholl der scharfe, kecke Ton der Klingel durch das schlafende Haus.

,Er klingelt wirklich!‘ sagte ich dumpf vor mich hin, ‚Schicksal, nimm Deinen Lauf!‘

Es dauerte natürlich eine ganze Weile, bis jemand kam; mir wurde ganz elend in der Wartepause, während Solten von Zeit zu Zeit ein neues Streichholz anzündete und mir mit einem so sorglos vergnügten Gesicht zunickte, als wenn wir im Ballsaal wären.

Endlich schlürfte etwas den Flur entlang, ein Bursche mit gesträubten Haaren und verschlafenen Augen, in einer grauen Kommißjacke, ein Licht in der Hand, öffnete die Thür einen kleinen Spalt weit – ich hörte ein unverständliches Gemurmel aus dem Flur. Solten zog seine Visitenkarten heraus. ,Gehen Sie ’mal zum Herrn Hauptmann und sagen Sie ihm, der Herr Lieutenant von Solten wünsche, ihm seine Aufwartung zu machen!‘ begann er mit einer unbefangenen Selbstverständlichkeit, die man erlebt haben muß, um sie zu glauben.

Der Bursche starrte den Sprecher verständnis- und wortlos an.

‚Der Herr Hauptmann schlafen!‘ bemerkte er dann.

,Ach bewahre!‘ sagte Solten gemütlich, ,das kann ich mir gar nicht denken! Und wenn er schläft, dann bitte, klopfen Sie ’mal so recht herzlich und innig, als wenn Sie ihn zum Dienst weckten – das kennen Sie ja, mein Sohn! Und nun – marsch!‘ In diesem letzten Worte lag der unverkennbare, soldatisch befehlende Ton, der auf den Burschen seines Eindrucks nicht verfehlte; er machte ohne ein weiteres Wort Kehrt und verschwand im Hausflur.

‚Solten Solten,‘ stöhnte ich, ‚Deine Frechheit wird uns noch zu Grunde richten!‘

,Im Gegenteil,‘ erwiderte mein Freund sehr ruhig. ‚Paß auf, die Sache verläuft glänzend! Und für jeden Fall sitzen wir im Trocknen, denn lebendig gehe ich aus diesem Hause nicht vor morgen früh hinaus – da kannst Du Gift drauf nehmen!‘

,Weiter fehlt mir nichts!‘ knirschte ich. In diesem Augenblick erschien der Bursche wieder. Der Herr Hauptmann lassen sehr bitten, näher zu treten,‘ sagte er, und Solten warf mir einen triumphierenden Blick zu. ,Komm Du nur mit!‘ flüsterte er, und ich, steif gesessen, verlegen und wütend, wie ich war, kroch hinter ihm her und hörte noch, wie der Bursche ganz entsetzt vor sich hin murmelte: ,Noch einer!‘ und sich mit dem Licht über die Treppe bückte, ob der Segen nun wirklich ein Ende habe.

,Herr Hauptmann lassen für ein paar Minuten um Entschuldigung bitten; sie wollen nur noch Toilette machen,‘ sagte der Bursche und öffnete uns die Thür zu einer behaglichen Wohnstube. Nun, das ließen wir uns begreiflicherweise nicht zweimal sagen; in der nächsten Sekunde saßen wir uns gegenüber in ein paar bequemen Sesseln – der Bursche hatte eine Lampe gebracht – und die Sache ließ sich soweit ganz behaglich an. Nach einer Weile kamen

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