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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Wenn er’s doch gethan hätte!“ dachte ich. „Ach meine arme Mutter!“

Und wieder Schweigen. Die Base war in sich zusammengesunken als läge eine Bergeslast auf ihrem alten Rücken; ihr Gesicht hatte einen unheimlich starren Ausdruck. Ich ging, von innerer Unruhe getrieben, im Stübchen umher, kaum wissend, was ich that, was ich sah. Vor der Kommode blieb ich stehen und heftete meine Augen auf die Bilder darüber, nach denen die Frau eben gezeigt hatte. Es waren einige verblichene, mit schlechten Apparaten gemachte Photographien, ein junges Ehepaar, das nebeneinander saß, die Hände verschlungen; dann das Bildchen eines kleinen Knaben, und unter diesem das Porträt eines jungen Menschen, vielleicht von sechzehn Jahren. Rein mechanisch nahm ich dieses Bild herunter und betrachtete es.

„Wer ist das?“ fragte ich über die Schulter zurück, nur um die Stimme der Base zu hören, denn mir graute fast, so unbeweglich verharrte sie.

„Das ist – das ist Robert Nordmann,“ scholl es leise herüber, und sie räusperte sich, als stecke etwas in ihrer Kehle.

Der Name tönte mir wie lange vertraut ins Herz, und lieb und vertraut sah mich das kluge fein geschnittene Gesicht an, lieb und vertraut, als hätte ich es von jeher gekannt. O, ganz gewiß, es giebt Ahnungen, es giebt ein geheimnisvolles Band, das oft die Seelen schon verbunden hat, lange bevor man die Menschen, mit denen es uns verknüpft, von Angesicht zu Angesicht geschaut, den Ton ihrer Stimme gehört hat.

„Wer ist er? Wo ist dieser Robert Nordmann?“ fragte ich fast heftig.

„Der Schwestersohn von Hannchen ist er,“ antwortete die alte Frau, und es klang, als schluckte sie Thränen. „Wo er ist? Gott mag es wissen – irgendwo in der Welt, seitdem – –“

Sie schwieg.

„Seitdem, Base?“

„Seitdem er die Heimat verlassen mußte.“

„Und wann war das?“

„Vor zehn Jahren. Aber fragen Sie nicht, Kind, es thut nicht gut, heut’ abend erst gar nicht – ich könnte mehr sagen, als ich darf.“

Armer Robert Nordmann! Ich hielt das kleine Bild liebkosend an meine pochende Schläfe. Armer Robert Nordmann – arme Anneliese von Sternberg! Es kam mir vor, als seien wir Unglücksgefährten. Ich hing die Photographie zurück an ihren Platz, ließ die Hände sinken und wußte nicht, was beginnen mit meinem wunden angstvollen Herzen.

„Anneliese, Fräulein Anneliese,“ begann auf einmal die alte Frau, während sie auf ihren weichen Filzschuhen unhörbaren Schrittes zu mir herüberkam und ihre müden hellblauen Greisenaugen in den meinen forschten, „ist’s wahr, Kind, was der – was Wollmeyer sagt – Sie wollen fort, Sie wollen die Mutter verlassen?“

Ich nickte.

„Thun Sie’s nicht!“ flüsterte sie, als stände jemand unsichtbar hinter mir, der es hören könnte. „Thun Sie’s nicht, sie wird Sie brauchen, sie würde es nicht überleben, Kind, wenn Sie gehen, denn, sehen Sie – sie thut ja alles nur, weil sie Sie behalten will. Verstehen Sie nicht? Sie sind so ein kluges Mädchen, Annelieseken – versprechen Sie’s mir, gehen Sie nicht fort! Und erzählen Sie ihr auch nichts von der Marthe – ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?“

Ach, ich verstand sie, ja ich verstand alles. Meine Mutter hatte sich verkauft, und ich wußte, daß sie es nur gethan, weil kein anderer Ausweg war. Und an wen verkauft! Wie gefoltert lief ich fort, in unser gemeinschaftliches Schlafzimmer hinauf. Dort lag ich schlaflos und zitternd und lauschte dem Gesellschaftstrubel unten. Erst als der blasse Morgenschein dämmerte, gingen die Gäste, und Mama schwankte zur Thür herein, fahl und blaß. Sie glaubte mich schlafend, trat vor mein Bett mit gefalteten Händen und sah mich an.

Da richtete ich mich auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Mama, meine Mama!“ Und als sie sich niederwarf vor meinem Bett und mich umschlang, als wollte sie mich ersticken, da sagte ich an ihrem Ohr: „Ich bleibe bei Dir, ich will bei Dir bleiben!“

Sie antwortete nicht, sie umfaßte mich nur fester und ich fühlte, wie sie bebte, wie schwer ihr Atem ging.

Lange hielten wir uns so umschlungen, und ich gelobte still, alles, was kommen möge, gemeinschaftlich mit ihr zu tragen, und redete ihr Trost ein gegen meine Ueberzeugung.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge lugten, da schlummerte sie süß und fest, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und ich dachte an das arme Weib in dem kleinen Laden, das er betrogen, und dachte an Robert Nordmann und bat Gott um ein Wunder, das uns retten solle vor jenem Mann; nur Gott allein könne es, meinte ich. Aber er that kein Wunder, und Mama ward drei Wochen später Herrn Wollmeyers Frau – meine arme geliebte stolze Mutter seine Frau! Fortsetzung folgt.




Tierische Organsäfte als Heilmittel.


Wenn in den Wildnissen des Dunklen Weltteils ein Löwe erlegt wird, dann stürzen die dunkelhäutigen Eingeborenen auf die Jagdbeute, reißen ihr das Herz aus dem Leibe und verzehren es mit wilder Gier. Oft entspinnt sich darob ein heftiger Streit, denn das Löwenherz ist, nach dem Glauben der Schwarzen mit wunderbaren Kräften ausgestattet. Es verleiht Mut demjenigen, der es verzehrt. Diese Art Aberglauben ist überall unter den Menschen verbreitet und Anklänge an solche Anschauungen der Naturvölker leben auch bei uns in Deutschland fort.

Schauen wir uns nur die Aelpler näher an. Da haben die Burschen und Jäger den Gemsbart auf dem Hut, weil er Kraft geben und schneidig machen soll, und auch die Gemsklaue wird als Amulett getragen, denn sie soll gegen Altersschwäche und Kraftlosigkeit schützen. In der Volksmedizin spielen vollends verschiedene Teile des Tierkörpers eine gar wichtige Rolle. Herzkranken wird empfohlen, das Herz des Hirsches zu essen, und Lungensüchtige werden mit pulverisierter Fuchslunge behandelt. Gegen Podagra, Bein- und Fußleiden gelten Hasenläufe und Hasenfett als ausgezeichnete Heilmittel, und wer ein scharfes Gedächtnis bekommen will, dem wird geraten das Hirn des braunen oder roten Eichkatzl zu essen!

In früheren Zeiten waren derartige Heilmittel allgemein anerkannt und auch in den Apotheken käuflich; nicht nur das „Volk“ benutzte sie, auch gelehrte Aerzte befaßten sich in vollem Ernst mit ihnen und brachten die Lehre von den Heilkräften verschiedener Organe des tierischen Körpers in ein, wie es ihren Zeitgenossen zweifellos erschien, lehrreiches und weisheitsvolles System. Die neuere Forschung räumte mit dieser Lehre unbarmherzig auf, und vor mehr als einem Jahrhundert verschwand sie aus den Büchern der Medizin; etwas länger hielten sich die tierischen Heilmittel in den Apotheken, da das Volk noch immer nach ihnen verlangte.

Wenn indessen die letzten Vertreter jener Lehre wieder erwachen und jetzt Umschau in der fortgeschrittenen Welt halten könnten, so würden sie Genugthuung empfinden; denn siehe da, unter den neuesten Heilverfahren giebt es eines, das gar sehr an das alte abergläubische erinnert: man hört ja heute so viel von einer „Gewebssaft“- oder „Organsafttherapie“, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts werden aus den verschiedenartigsten Körperteilen nicht nur Heilmittel, sondern sogar Verjüngungsmittel, Lebenselixiere bereitet.

Unsere Zeit steht im Zeichen der Nervosität. Man sucht den geschwächten Nerven auf verschiedenen Wegen beizuspringen, predigt die „Rückkehr zur Natur“, empfiehlt „naturgemäße Lebensweise“, verordnet die heilsame Bergluft und nimmt das Wasser zu Hilfe, indem man die Schwachen durch „Güsse“ stärkt. Die neueste der Heilarten erinnert aber sehr an die Stärkung des Gedächtnisses durch Verspeisen des Gehirns von einem „Eichkatzl“. Professor W. Babes in Bukarest und Constantin Paul in Paris wollen gefunden haben, daß man den kranken und geschwächten Nerven auf eine ganz besondere Weise beispringen könne.

Voraussichtlich vermöge der kranke Organismus nicht die nötigen Mengen der geheimnisvollen Nervensubstanz zu erzeugen;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_654.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2023)