Seite:Die Gartenlaube (1894) 652.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

importiert, ein feudaler Tropfen.“ Oder machte es das entsetzlich gemalte Bild der verstorbenen Frau Stadträtin, die in Brautkleid und Myrtenkranz aus dem Rahmen schaute mit so erstaunten Augen und so blödem Lächeln, als wollte sie sagen: was soll denn das noch werden heute?

Die jungen Mädchen hatten sich in einer Nebenstube zusammengefunden. Die kleinste Tollen, der Backfisch, maß mich mit einem mitleidig hochmütigen Lächeln, die Lore saß wie ein Steinbild und starrte meine Mutter an. Der Sanitätsrat kam und klopfte mich auf die Schulter: „Wie steht’s? Sitzen wir stramm im Sattel? Halten wir unsere Zügel auch fest, damit die Schecke nicht durchgeht? Der Kopf da, dieser wilde kleine Kopf, der wird Ihnen noch zu schaffen machen, Kind! Na, nichts für ungut, Anneliese, wir sind ja alte Freunde.“

„Ich werde schon fertig mit meinem Kopf,“ entgegnete ich.

„Lieber Himmel! Wann wird denn eigentlich die Bombe platzen?“ fragte ein ältliches junges Madchen. „Vielleicht ist gar nichts daran!“ Und sie sah blaß aus wie der Tod; sie hielt die Hoffnung fest bis auf den letzten Augenblick. Sie hätte so gern dem Stadtrat das unvergeßliche Hannchen ersetzt und bot in dieser Minute den Anblick eines peinvoll gemarterten Menschenkindes.

Und endlich platzte sie, die Bombe. Beim Braten eröffnete der Hausherr, das Champagnerglas in der Hand, seinen lieben geehrten Gästen, daß das Glück eingekehrt sei in sein ödes Haus, schöner als er es je zu hoffen gewagt; ein edles Frauenherz habe sich ihm zugeneigt in aufrichtiger herzlicher Liebe. „Und so bitte ich Sie, meine Herrschaften, Ihre Gläser zu erheben und mit mir anzustoßen auf das Wohl meiner geliebten Verlobten, auf das Wohl der Frau Helene von Sternberg, geborene von Plettenhausen.“

Einen Augenblick blieb es so still, daß man das Wehen des Fächers vernahm, den die kleine Tollen, der Backfisch, schwang. Dann ertönte die Stimme der Komtesse, und ihr Stuhl fuhr mit energischem Ruck zurück: „Dein Wohl, liebe Helene, und tausendfaches Glück!“ Und „Hoch! Hoch! Hoch!“ riefen nun die anderen. Dann die üblichen Ausrufe des Erstaunens. Diese Glückwünsche, diese Küsse für meine Mutter, die bald blaß, bald rot wurde! Eine Völkerwanderung um die Tafel entstand, und ich gedachte, sie zu benutzen, um davonzulaufen, da erwischte mich die Komtesse und hielt mich am Kleide zurück.

Der Stadtrat kam jetzt, mit seinem Glas in der Hand, zu mir herüber, aber plötzlich schwenkte er ab, mein verzweifeltes Gesicht mochte ihm nichts Gutes weissagen, und wandte sich verlegen an Käthe Tollen, die während der ganzen Geschichte ruhig an ihrem Platz verblieben war. „Stoßen Sie denn nicht mit mir an?“ fragte er liebenswürdig. Aber leider machte er seine Verbeugung vor dem leeren Stuhl, denn das Kind stand plötzlich neben mir und streichelte mir die Wangen.

„Du dauerst mich, Anneliese, Du dauerst mich; ich an Deiner Stelle liefe davon!“

Ach, in mir sank der Mut zum Davonlaufen immer mehr; ich sah Mamas Augen so beständig nach mir suchen, sah sie mit einem so flehenden verzagten Ausdruck auf mich gerichtet, als saugte sie aus meinem Anblick allein die Kraft, sich aufrecht zu halten. Ich mußte sie immerzu ansehen, und unwillkürlich trat ich zu ihr und preßte ihren zitternden Arm, sie zu trösten.

Eben kam der selige Bräutigam wieder herüber zu ihr; der Champagner saß ihm im Kopf und der Stolz auf sein Glück dazu. Er nannte die Komtesse, die nicht von Mamas Seite wich, „Schwiegermamachen“, er nannte Mama „Schatz“ und schrie es über die ganze Tafel. Ich krampfte die Hände in mein Kleid; die Komtesse warf ihm einen Blick zu, der jeden andern erfrieren gemacht hätte. „Attention, mein Herr!“ sagte sie.

„Geh’ hinauf, Anneliese, Du bist noch zu angegriffen für solchen Trubel,“ flüsterte mir Mama zu, und ich ging; ich hätte sie nicht mehr ansehen können, es machte mich elend in tiefster Seele. Ach, und allein droben war es noch schlimmer! Ich lief umher mit gerungenen Händen, die Stuben wollten über mir zusammenstürzen. Und ich ging wieder hinunter und trat in die Küche und fragte nach der Base. Sie sei in ihrem Zimmer, antwortete mir das Mädchen.

Die Stube lag nicht weit von der Küche, nach der Gartenseite hinaus; sie hatte ein einziges Fenster und einen mit buntgeblümtem Kattun verhangenen Alkoven in dem das Bett der Base stand. Auf dem Tisch brannte eine Lampe; die alte Frau saß neben dem Ofen, die Hände in der weißen Schürze, und starrte ins Leere hinein. „Sie sind’s, Fräulein Anneliese?“ sagte sie, flüchtig aufsehend. „Ich ruh’ ein bißchen aus, bin selten so abgehetzt worden wie heute.“

„Darf ich denn ein wenig bei Ihnen bleiben, Base?“

„In Gottes Namen!“ antwortete sie und starrte von neuem vor sich hin.

Noch ehe ich einen Platz gesucht, ward die Thür aufgerissen, und eine Person stürmte herein, die ich ab und an schon im Hause gesehen hatte. Eine entfernte Verwandte von Herrn Wollmeyer sollte sie sein, eine Witwe in den dreißiger Jahren, der der Stadtrat in seinem allbekannten Edelmut eine Existenz verschafft hatte, indem er ihr einen kleinen Laden in der Hauptstraße einrichtete, wo sie mit Bändern und Knöpfen, Strickgarn und ähnlichem handelte und sich und ihr kleines Kind ernährte. Sie war eine hübsche rotwangige, ober gewöhnlich aussehende Frau, die Knopfmarthe, wie sie im Städtchen hieß. Heute schien sie ganz verwandelt, die Röte des Gesichtes war bedenklich gesteigert, die kleinen schwarzen Augen funkelten, als sei sie von Sinnen, das Schultertuch war ihr herabgeglitten und eine halbgelöste Flechte hing ihr über den Nacken.

„Bei Euch geht’s ja lustig zu!“ schrie sie und ihre bebenden Hände rissen das Tuch herab. „Das sind ja hübsche Geschichten, Base, in denen Sie Ihre Kuppelhände stecken haben –“

„Jesus, Marthe, sind Sie bei Trost!“ rief die alte Frau emporschnellend und wies auf mich. „Sehen Sie sich doch erst um, ehe Sie drauf losschimpfen! Was wollen Sie denn?“

„Nun, gratulieren will ich, zur Verlobung gratulieren!“ schrie die fassungslose Frau, „was soll ich denn weiter wollen? Das ist ja wohl das gnädige Fräulein Stieftochter?“ wandte sie sich an mich. „Gratuliere Ihnen auch, kriegen ja einen vortrefflichen Papa, einen ganz vortrefflichen und ’nen gescheiten dazu, einen sehr gescheiten. Ja, der versteht’s, zu – werben,“ und sie trat näher zu mir und hielt ihre große zitternde Hand vor sich hin und schlug mit der andern hinein. „Da fragen Sie nur Ihre Mutter, Fräuleinchen, wie er’s gemacht hat, daß sie Ja sagte, und wenn sie’s Ihnen nicht erzählen will, können Sie’s von mir erfahren. Leer ist ihre Hand gewesen, wie meine es war, und hungern thut weh, wissen Sie. Gott erspar’s Ihnen Ihr Leben lang, daß Sie jemand darben sehen, den Sie lieben. Und in solchen Augenblicken steht er da und legt Geld in die arme leere Hand und spricht von Menschen- und Christenpflicht und Hilfe um Gotteswillen. Ach, und das thut so wohl in der Erst, und dann – giebt er noch mehr, er giebt viel mehr, als man braucht, und er will nichts dafür, er will ja nur helfen, das ist seine Belohnung, sagt er. Ja, wer so dumm ist und glaubt’s – – Und wenn Sie mir das Kleid vom Leibe reißen, Base, ich red’ doch!“ schrie sie und stieß die alte verzweifelnde Frau zurück, daß sie fast taumelte. „Ja, reden thu’ ich! O, der Herr Stadtrat versteht’s, seine Schulden einzukassieren, ich hab’ auch bezahlt, bei Heller und Pfennig hab’ ich bezahlt, mit meinem Gewissen hab’ ich bezahlt, mit meiner Ehre hab’ ich bezahlt! Ihre Mutter zahlt auch, aber er macht’s besser mit ihr, er macht sie zu seiner Frau – ja – ja – –, mit solch armem Weib wie ich werden solche Umstände nicht gemacht. Aber ich neid’s ihr nicht, sagen Sie’s ihr, ich neid’s ihr nicht, denn ich bin frei und ich kann den Schurken von der Schwelle weisen, wenn er es wagt, zu kommen; aber sie, sie wird an ihn gekettet sein, sie wird dulden müssen, wie die geduldet hat, die draußen auf dem Kirchhof liegt, wie alle, die in seine Nähe kommen, wie die da!“ schrie sie und zeigte nach der Wand, an der einige Photographien hingen, „die darüber gestorben und verdorben und ins Elend gegangen sind! Drum sagen Sie es Ihrer Mutter, sagen Sie es ihr noch zur rechten Zeit, sie soll gehen, soweit sie ihre Füße tragen eh’ sie – –“

Die Stimme versagte der halb wahnsinnigen Frau, sie schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht, in ein bitterliches Weinen ausbrechend. Im nächsten Augenblick hatte sie ihr Tuch aufgerafft, und noch immer schluchzend lief sie hinaus.

Die Base saß auf dem Bettrand wie ein Steinbild und wagte nicht, mich anzusehen. Ich stützte mich gegen die Wand, denn vor meinen Augen drehte sich alles im Kreise. Schweigen herrschte – eine Ewigkeit, dünkte mich. Endlich murmelte die alte Frau: „Sie ist ein wütendes Ding, die Marthe, sie hat“ – sie räusperte sich – „ich glaube gar, sie hat gemeint, er soll sie heiraten. O, über das leichtsinnige Weibervolk!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_652.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)