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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Glut der Sonne, schon belebt von Bauernfuhrwerken und Landweibern, die zum Markte gekommen waren. Vor dem spitzgiebligen hohen Rathause stauten sich hoch aufgetürmte Heuwagen, die einer nach dem andern auf die Stadtwage gefahren wurden, und längs des Bürgersteiges standen die Butterweiber, die Kiepen mit der appetitlichen Ware vor sich, eifrig schwatzend, hier und da auch schon Käufer bedienend. Dies alles erschwerte mein eiliges Gehen, und ich strebte doch so sehr vorwärts. Wie eine Irrsinnige mag ich ausgesehen haben, als ich mich durch die Menge schob, rasch atmend, ohne Hut, und nur ein Tuch flüchtig umgeschlagen; die Haare zerwühlt und verwirrt, die Augen heiß und verschwollen.

Die Fenster der Komtesse waren mit den Läden verschlossen; ich überlegte keine Sekunde, ob die alte Dame etwa noch schlafe, und riß die Klingel, als gelte es, Feuer anzumelden.

Im nächsten Augenblick wurde die Sicherheitskette drinnen ausgehakt, und die Komtesse rief: „Du infamer Schlingel, hab’ ich Dich endlich“ – – „Herr meines Lebens!“ schrie sie dann, und in der nächsten Sekunde hatte sie mich über die Schwelle gerissen und stand vor mir, im tiefsten Negligé – sie mochte just dem Bett entstiegen sein – in rosa geblümter Nachtjacke, grauem wollenen Unterrock, ungeheure Filzschuhe an den Füßen, mit eingewickelten Löckchen, die seltsam schaukelnd unter der gekrausten Nachthaube hervorbaumelten. Sie hielt das kupferne, wie Gold glänzende Kohlenbecken, auf dem sie ihren Kaffee warm zu halten pflegte, in der Hand und sah mir starr ins Gesicht.

„Herr meines Lebens, Anneliese, ist Deine Mutter krank?“

Ich konnte auf einmal nicht sprechen, die Kehle war mir wie zugeschnürt.

„Komm! Du schaust ja aus wie das Leiden Christi! Komm hinauf!“ Und sie zog mich die Treppe empor und schob mich vor sich her in ihr Zimmerchen, in dem die Jalousien vor dem geöffneten Fenster herabgelassen waren. Dort stellte sie das Kohlenbecken auf den Tisch und ergriff mich bei beiden Schultern.

„Was hat’s gegeben, Anneliese?“

„O Tante,“ stammelte ich, und die Zähne schlugen mir zusammen, „Tante – bitte – Tante hilf mir doch – – Mama –“

„Natürlich! Sie ist nun glücklich krank geworden! Hab’s ihr gleich gesagt, hat sich ja bei Deiner Pflege reinweg übernommen! Na, mach’ doch nur kein so gottsjämmerliches Gesicht, Deine Mutter stirbt nicht gleich – wart’ – ich ziehe mich an und komme mit. Habt Ihr den Doktor schon?“

„Sie ist nicht krank – sie ist – sie hat – –“

„Herrgott, so rede doch endlich!“ rief sie ärgerlich. „Was hat sie?“

„Sie will – ach Tante, es ist so fürchterlich – sie will – der Wollmeyer – er will Mama heiraten.“

„Der Wollmeyer wi – will – Deine Mutter?“

Ich hob die thränenden Augen und starrte in ein Antlitz, das vor Ueberraschung wie versteinert schien.

„Ja! Ach, Tante, hilf mir, leide es doch nicht, sag’ es ihr doch!“ Jetzt brachen die Thränen stromweise aus meinen Augen.

Die alte Dame aber war in einen Stuhl gesunken, und ich kniete vor ihr, das Schluchzen rüttelte mich wie der Sturm einen jungen Baum. Sie hatte die große schwere Hand auf meinen Kopf gelegt und sprach kein Wort, sie ließ mich erst ausweinen.

Nach einer langen Weile räusperte sie sich. „Hm!“

„Tante?“

„Hm!“

„Liebe beste Tante, leid’ es doch nicht!“ flehte ich aufs neue.

„Josephine!“ schrie die Komtesse, „bring’ den Kaffee! Du mußt ’was genießen, Kind, dann reden wir!“ Und als der Tisch gar zierlich mit dem einfachen weißen Kaffeegeschirr gedeckt war, strich sie mir eine Buttersemmel und trank, starr auf einen Punkt sehend, in kleinen Schlückchen ihre ungeheure Tasse leer, offenbar ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Es dünkte mich eine Ewigkeit. Dann langte sie nach dem kleinen Gebetbuch, schlug es auf, wo das Zeichen lag, rief ihren Kanarienvogel, der sich eben anschickte, seinen Tageslauf mit einem Triller zu beginnen, ein energisches „Pst!“ zu und las mit gefalteten Händen laut: „Und gedenkest alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat, auf daß er dich demütigte und versuchte, daß kund würde, was in deinem Herzen sei, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht – Amen!“ Und nun faltete sie die Hände über dem zusammengeklappten Buche und sagte: „Du bildest Dir das wahrscheinlich alles ein, Du kleines dummes Gör. Ich bin überzeugt, die Len’ – – ich werde nachher mit Dir gehen und – –“

Da wurde die Thüre aufgerissen und meine Mutter kam herein. Als sie mich sah, faßte sie nach der Lehne des Sofas, auf dem die Komtesse saß, ihre Gestalt wankte und ein eigentümlicher Laut kam aus ihrer Kehle. „Anneliese!“ murmelte sie, „Gott sei gelobt!“

„’n Morgen, Len’!“ rief die Komtesse, aber ihr Gesicht war so hochmütig und eiskalt, als ob sie einen mißliebigen Bittsteller vor sich hätte und nicht ihren vergötterten Liebling, der sich wie gebrochen in einen Stuhl fallen ließ und das schöne Gesicht senkte wie in schwerem Schuldbewußtsein.

„Du hast mir wohl etwas zu erzählen, Len’? Geh’ in die Küche, Anneliese, zur Josephine, denk’ nach über das, was ich eben gelesen hab’!“

Meine Mutter hob den Kopf nicht, als ich vorüberschritt, aber hinter mir her flog die Stimme der alten Dame wie das Signal eines zur Attacke blasenden Trompeters: „Len’, bist Du denn ganz von Gott verlassen? Einmal zu heiraten, das ist eine Dummheit, die ich einem Frauenzimmer vergeben kann, aber das zweite Mal – da hört doch – –“

Gottlob, die Komtesse würde es zu hindern wissen!

Fröstelnd und übermüdet saß ich neben Josephinens Kochherd, starrte gedankenlos die Menge der Teller und Gläser und Töpfe an, die auf Regalen standen, welche alle sauber mit weißen Papierspitzen ausgelegt waren, und zählte die alten Zinnteller mit dem gräflichen Wappen immer noch einmal – vierundzwanzig Stück und zwei große Schüsseln. .... Wie unendlich lange blieb sie! Endlich hörte ich Schritte die Treppe herunterkommen, durch den Flur eilen und das Haus verlassen. Mama ging – sie war böse auf die Komtesse, sie beharrte auf ihrem Willen, sie – mein Gott!

„Gnädiges Fräulein möchten zur Komtesse kommen,“ sagte Josephine. Ich stürzte aus der Küche und die Treppe empor. Die alte Dame war allein im Zimmer; sie stand an ihrem Blumentisch und pflückte ein paar welke Blättchen ab.

„Na, mein altes Gör?“ fragte sie weich, ohne sich zu wenden.

„Wo ist Mama?“

„Sie ist nach Hause gegangen.“

„Tante!“

Sie wandte sich noch immer nicht um. „Anneliese, Du wirst vernünftig sein, wirst Deiner Mutter einen Schritt, den sie mit reiflicher Ueberlegung thut, der ohnehin sehr schwer ist, nicht noch schwerer machen.“

„Tante – Du – auch Du?“

„Ich sehe ein, sie hat recht von ihrem Standpunkt aus; Du kannst das nicht verstehen. Es ist sehr schwer, schutzlos zu sein im Leben – für eine Frau in der Lage Deiner Mutter. Sie – na, das, wie gesagt, Anneliese, das verstehst Du nicht.“

Also, das war das Ergebnis der Unterredung – die Komtesse völlig auf seiten Mamas! Ich stand wie gelähmt.

„Na, Anneliese?“

Sie drehte sich endlich um, da sah ich, daß die kleinen grauen Augen rot umrändert waren. Die Komtesse, die Harte, die allezeit Gelassene, hatte geweint!

„Deine Mutter,“ fuhr sie fort, „wird die Verlobung so bald als möglich veröffentlichen, sie will Rücksprache mit Herrn Wollmeyer nehmen und wird, da sie nicht wohl in dem Hause ihres künftigen Mannes wohnen kann, mein Gast sein bis zu ihrer Hochzeit. Du – natürlich ebenfalls, wenn Du nicht vorziehst, eine kleine Reise zu machen. Ich – ich habe Verwandte in Hamburg, die sich freuen würben, Dich anzunehmen bis – die Hochzeit vorüber. Falls Du – –“

„Bitte – ja, ich werde diesen fremden Leuten dankbar sein, Tante.“

„Dann freilich kehrst Du in das Haus Deiner Eltern zurück.“

„Ich werde nie mehr Eltern, sondern immer nur eine Mutter haben, Tante. Ich hatte einen Vater, Du kanntest ihn und wirst begreifen, daß er durch solchen Mann nie ersetzt werden kann, wenn überhaupt vom Ersatz eines Vaters die Rede sein darf, und ich werde nicht in das Haus meiner Mutter zurückkehren, sondern versuchen, auf eigenen Füßen durch das Leben zu gehen.“

„Aber das wird sich ja alles finden, Anneliese,“ antwortete sie, und ihre Stimme hatte gar nicht den energischen Klang wie sonst. „Also vorläufig gehst Du nach Hamburg? Wie die Sachen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_650.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)