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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

dem pechschwarzen Mozartzopf ihrer Nachbarin Thusnelde Lehmann. Jetzt blinkt sie gar ganz unverschämt in den Spiegel an der Wand, und der Widerschein blendet die blonde Hamburgerin Paula so sehr, daß sie errötend das Köpfchen auf Schillers dritten Band neigt – oder ist es, weil der Professor, der neben ihr steht, sie gerade so scharf angesehen hat?

Sie faßt sich aber und beginnt mit schulmäßigem Tonfall die gewünschte Inhaltsangabe des „Don Carlos“ zu liefern.

„Don Carlos wurde geboren 1555 und entstand im Jahre 1787. Der tragische Konflikt in diesem Drama beruht darauf, daß Don Carlos seine Schwiegermutter liebt …“

„Das gesteh’ ich,“ unterbricht sie der Professor, indem er sie mit unendlichem Vergnügen ansieht, „das ist doch einmal ein tragischer Konflikt, wie er sein soll. Woher haben Sie denn diese Weisheit, Fräulein Meyer?“

„So haben wir es aus dem Lehrbuche in der Prima gelernt,“ versichert die Gekränkte mit der Ruhe des guten Gewissens.

„So, so. Ja, da haben Sie sich leider verlernt. Selbst in einem Lehrbuch dürfte so etwas nicht stehen. Die Königin Elisabeth ist nicht die Schwiegermutter des Infanten, sondern – – bitte, Fräulein Lehmann?“

„Die Stiefmut – Huh!!“

Und „Huh! Huh!“ tönt es auf beiden Seiten des Tisches, und im nächsten Augenblick hat Professor Seeling die Freude, seine schönen Zuhörerinnen unter einem wesentlich erhöhten Gesichtspunkt zu betrachten. Sie stehen oder knieen nämlich auf ihren Stühlen oder sitzen auf dem Tisch. Mit beiden Händchen raffen sie die Kleider eng zusammen, und angstvoll starren die blauen, grauen, braunen und schwarzen Augen in eine dunkle Zimmerecke.

„Eine Maus! Eine Mau – Mau – Maus!!“

Nur zwei haben ihren Platz bewahrt: der Professor, dem der Vorfall eine innige Freude zu bereiten scheint, und die Maus, welche vor Schreck einem Schlaganfall nahe ist. Nun steht der Professor langsam auf, die Maus huscht in den Winkel – erneuter allgemeiner Aufschrei – und verschwindet, der Professor aber untersucht mit dem Zeigefinger die Ecke – diesmal nur ein Schrei, und den stößt Paula aus dann nimmt er einen marmornen Briefbeschwerer vom Schreibtischchen und legt ihn bedächtig vor das entdeckte Mauseloch.

Die jungen Damen nehmen ihre Plätze wieder ein, sehr verwirrt, sehr erhitzt und sehr beschämt.

„So, Meine Damen, der Feind ist vorläufig geschlagen und eingesperrt. Ja, die Mäuse! Die alten Aegypter, wie Ihnen Professor Ebers jedenfalls schon irgendwo verraten hat, fürchteten sie als das Tier des Todes. Merkwürdig, wie zähe sich manche von diesen altägyptischen Vorstellungen erhalten haben. – – – Darf ich bitten, fortzufahren, Fräulein Meyer?“


3.

„Sie sind der Held des Tages, Herr Professor,“ bemerkte Frau Doktor Ulrich lächelnd, als sie vor der nächsten Litteraturstunde mit dem jungen Professor allein in ihrem hübschen „Studierzimmer“ saß. „Eigentlich sollte ich es Ihnen gar nicht verraten, aber es ist Thatsache, daß Sie seit Ihrem glorreichen Mäusesieg von meinen Mädchen wie ein Lohengrin bewundert werden. Aber nun raten Sie mir einmal, lieber Professor, was soll ich gegen diese schrecklichen Mäuse machen? Nie hätte ich geahnt, daß sich ein solches Tier in unserem Hause aufhält.“

„Aber ich bitte – in einem Hause, wo soviel Süßes beisammen ist! Mäuse lieben Süßigkeiten. Uebrigens empfiehlt man gegen diese Tiere die Anwendung von Katzen.“

„Wir haben aber keine Katze!“

„Ich werde mir ein besonderes Vergnügen daraus machen, Ihnen eine zu besorgen.“

„Wirklich, wollten Sie das? Ach, wie reizend! – Meinen besten Dank im voraus!“

„Bitte! Wünschen Sie das Tier in Grau, Weiß, Schwarz oder Rot, oder ziehen Sie Melange vor?“

„Ganz nach Ihrem Belieben, bester Professor! – Beiläufig, Wie gedenken Sie die nächsten Stunden – leider sind es ja nur noch drei bis zum Semesterschluß! – zu verwenden? Wollen Sie bis zu Ende mit Ihren Wiederholungsfragen fortfahren?“

„Es wäre zu grausam. Mit Ihrer Erlaubnis gedenke ich heute das Examen abzuschließen und den Rest der Stunden auf die Annette von Droste-Hülshoff zu verwenden; sie gehört jedenfalls von allen Dichterinnen am ersten in unsere Litteraturstunden.“

„Ein reizender Gedanke, lieber Professor! Meine Mädchen werden sich sehr freuen.“ – – –


4.

„Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt eine Katze herbekomme,“ murmelte Hans Seeling, als er nach seiner Vorlesung die Villa Ulrich verließ. „Da muß Freund Holm wieder einmal aushelfen, wozu ist die Presse denn da?“ Dann hüllte er sich fester in den Mantel und schritt durch Märzsturm und Regenschauer der Altstadt zu. Sein Herz aber war der Zeit voraus. In lichtem Maienglanze stand vor seinem inneren Blick eine zarte Gestalt mit blonden krausen Haaren und blauen ernsthaft schauenden Augen, fast noch Knospe, doch die lieblichste Blüte verheißend. Es war so köstlich, vor diesem Bilde zu weilen, daß der einsame Wanderer schier verstimmt ward, als er sich nach einer halben Stunde vor der „Villa Medici“ angelangt fand.

Die „Villa Medici“ war ein altes winkliges Haus mit gefährlich steilen Treppen und schmalen dunklen Gängen, unweit der Klinik. Ihren Namen hatte sie daher, daß stets eine Anzahl Assistenzärzte und Kandidaten der Medizin dort hauste. Auf dem Treppenpodest des zweiten Stocks stand ein wohlgefügtes Skelett, das in der erhobenen Rechten zwei Visitenkarten hielt; auf der Karte rechts stand gedruckt „Dr. med. Engelbrecht“, auf der linken mit Bleistift geschrieben „Otto Holm, Vertreter der Presse“.

„Ein netter Vertreter!“ brummte der Professor und klopfte an der ersten Thür links an.

Ein starker Tabaksqualm füllte das ziemlich große, im stillosen Stile der Studentenbuden bunt möblierte Zimmer und lagerte besonders dicht um das Haupt des am Schreibpult sitzenden Bewohners, „wie eine Wolke um die ambrosischen Locken des Zeus“, meinte Otto Holm. Er trug einen geblümten Schlafrock, der mehr Löcher als Blumen zeigte. Links neben dem Pult stand ein Bierhumpen neben einer dickbäuchigen Kanne, rechts lag auf dem Boden eine Anzahl beschriebener Blätter wüst durcheinander.

„Willkommen in der Klause!“ rief der Reporter, indem er seinem Freunde herzhaft die Hand schüttelte. „Es ist Dir vergönnt, einen Blick in die Werkstatt des schaffenden Geistes zu thun. Hier aus diesem Kruge strömt das elektrische Fluidum durch meine Kehle in die Hand, von dort durch die Feder aufs Papier, welches sich unten rechts am Boden niederschlägt. Sammle ich hernach diese Blätter, zähle die Zeilen, multipliziere mit fünf und dividiere durch die schlechte Laune der Redaktion, so habe ich das Ergebnis des chemischen Prozesses in Reichspfennigen ausgedrückt.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 638. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_638.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)