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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

‚Ist’s Ihnen kalt, Fräulein Elsbeth?‘

‚Nein.‘

‚Nehmen Sie das Tuch fester um sich.‘ Ich half ihr mit der linken Hand. ‚Danke!‘ kam es klanglos von ihren Lippen. Da sprang das Sattelpferd an, bäumte sich hoch auf und wollte durchgehen. Ein Fuchs oder Hase mochte es erschreckt haben. Mit aller Macht packte ich die Zügel. Meinen linken Arm hielten zwei Hände umklammert, ein Gesicht lag angstvoll nahe an meiner Schulter. Aber sie sagte nichts. Nun beruhigte sich das Pferd, noch eine Weile galoppierend. Der Griff der Hände um meinen Arm lockerte sich – nur ein tiefer Seufzer. In meinen Schläfen hämmerte das Blut. Ich nahm die Zügel in die Rechte; wieder zog ich das Tuch um ihre Schultern, aber meine linke Hand blieb liegen um ihren Hals. ‚Elsbeth!‘ Zog ich sie, sank sie hin? Ihr Gesicht lag nun ganz an meiner Schulter. Irmgart, wo warst Du? Ich neigte mich und küßte sie. Die Pferde hielten still. Da schlangen sich zwei Arme um meinen Hals, zwei warme volle Lippen brannten auf meinem Mund. ‚O, Herr Kandidat!‘ klang es wie klagend in heißer Leidenschaft an mein Ohr.

‚Hast Du mich denn so sehr lieb?‘

‚Ja, unmenschlich. Von dem Augenblick an, wo Sie meinen Vater retteten … nein, schon früher – als Sie mich aus Versehen umfaßten, da fing es an.‘

Die Pferde mögen lange gestanden haben. Stumm fuhren wir weiter, draußen, wo’s lichter wurde, in scharfem Trab. Still kam uns der Inspektor auf dem Hofe entgegen; er war bleich im Morgengrauen. ‚Der Hengst ist tot. Das kann mir meine Stelle kosten.‘

‚Wir haben uns unterwegs verlobt,‘ antwortete ich ihm. ,Dann können wir drei ja zusammen gehen.‘ Er drückte mir schweigend die Hand, grüßte Elsbeth und ging.

Ich hob meine Braut vom Wagen. Stumm gingen wir die Treppe hinauf und den Gang entlang. Vor ihrer Thür blieb sie stehen und sah mich mit gebrochenem Blick an. ‚Sie werden mich doch nie recht lieb haben,‘ sagte sie leise.

‚Man sagt Du zu seinem Bräutigam, Elsbeth! Werde mir nur eine gute Frau!‘ entgegnete ich und küßte sie auf die tief gesenkte Stirn. Dann ging ich in mein Zimmer.

Ich hörte ihre Thür gehen und gleich darauf einen sonderbaren Ton als wenn jemand plötzlich laut und wie verzweifelnd aufweinte. Langsam trat ich an meinen Tisch, stützte die Hände auf und starrte auf das Lesezeichen, das da lag. Ich nahm’s und küßte es – und riß es in Stücke.“

Er machte eine Pause und sah vor sich hin in die Nacht.

„Trink’ aus!“ sagte er dann, scheinbar gleichgültigen Tones. „Meine Erzählung ist noch nicht fertig, und wir haben noch eine Flasche oder zwei zugut. Vergiß über meinen Historien nicht, daß wir Stiftungsfest feiern! Aber was hältst Du von meiner Geschichte?“ fragte er ablenkend und hielt mir das Glas hin.

„Ich hab’ sie Wort für Wort vorher gewußt, Werner, und nun will ich sie zu Ende erzählen; soll ich?“

„Jawohl,“ nickte er, „ich will zuhören.“

„Also und nun spricht Dein Beichtiger zu Dir und ein alter Freund: Du gabst Deinen Hauslehrerposten auf und arbeitetest danach, angestellt zu werden. Du zerfielst mit Deiner Familie, die Himmel und Erde aufbot, Deine Verlobung rückgängig zu machen, aber Du bliebst fest, weil Dir Dein Wort heilig war, weil Du dies Leben unauflöslich an Dich gekettet hattest und weil Du wußtest, daß sie sich das Leben genommen hätte, wärst Du von ihr gegangen.“

„Stimmt!“ sagte er ruhig.

„Du nahmst die erste beste schlechteste Stelle an, die sich Dir bot, und heiratetest vom Fleck weg. Deine junge Frau sagte unter tausend Aengsten und in heißer Liebe ihr Ja am Altar, und Dein Ja war ein Nein vor Gott; Du dachtest noch am Altar an Irmgart.“

„Stimmt!“ sagte er wieder eintönig.

„Dann versuchtest Du, Deine Frau zu bilden, aber es war vergebens. Sie verstand nichts von Goethe, Schiller und Shakespeare, mit denen Du sie quältest, und Deine hochfliegende Natur blieb ihr ein Rätsel. Du wurdest hart und bitter gegen sie, weil sie Dir nichts geben konnte und auch nichts nehmen konnte von Dir, um es sich anzueignen. Du standest allein, allein auch in Deiner Gemeinde, in der Du keine Anregung, keine Hilfe fandest, allein unter den Amtsgenossen, deren Frauen mit Deiner nicht verkehren zu können meinten, weil sie manchmal ,mir‘ statt ,mich‘ sagte. Und Du gabst Deiner Frau alle Schuld, Du wurdest immer rauher, unbarmherziger – und weil Du innerlich so großen Schaden littest durch eigene Schuld und nicht mit der Kraft überwindender Liebe Dein Schicksal trugst, darum verkamst Du allmählich. Nicht Deine Frau ist Dein Unglück gewesen, Werner, Deine Eitelkeit war’s. Der Geist der Liebe hat in Deinem Hause gefehlt, und es bleibt doch wahr: Liebe vermag alles!“

„Stimmt!“ sagte er noch einmal und stützte den Kopf in die Hände.

„Und dann, Werner, kamen die Kinder und mit ihnen die Sorgen. Viele Kinder und immer mehr Sorgen und – Schulden. Und alles zusammen hat Dich grau und alt gemacht, hat Deine schöne große Kraft gebrochen. Hab’ ich recht?“

„Ja!“ antwortete er mit einem tiefen Seufzer.

„So, das wäre das zweite Kapitel, bis zur Gegenwart fortgeführt. Aber nun brich erst mal die neue Flasche an, Werner; nachher, und wenn wir uns eine andere Cigarre angesteckt haben, wollen wir auf das dritte Kapitel übergehen.“

„Weißt Du noch ein drittes?“ fragte er, den Korkzieher einbohrend.

„Ja, die Zukunft.“

Er sah mich an. „Lieber Junge, lassen wir die!“

„Keineswegs! Lieber Werner, der alte Herrgott lebt noch, und so lange der regiert, hat’s keine Not um ein Menschenkind. Das brauch’ ich Dir, dem Pfarrer, nicht zu predigen.“

„Ach nein!“ seufzte er. „Gottlob, daß Du recht hast. Aber das Herz wird einem doch manchmal schwer.“

Er schenkte die Gläser voll. Wir stießen an. Ich legte ihm leise die Hand auf die Schulter. „Also Du hast Schulden, Werner?“

„Ja,“ sagte er, und in dem Licht des Streichholzes, an dem er seine Cigarre anzündete, sah ich eine tiefe Röte auf seinem Gesicht. „Du hast mir vieles erzählt; nun vertrau’ mir auch das noch – wie hoch ist die Summe ungefähr?“

„Es sind an viertausend Mark!“ erwiderte er und blies den Rauch weit von sich. Mit einem Mal fuhr er mit der Hand durch das Haar und sprang auf. „Die ewige Angst, die bringt mich noch um! Ich hab’ alles versucht und ich geh’ doch zu Grunde!“ Es klang wie der Aufschrei eines Gemarterten.

Ich war neben ihn getreten. „Na, alter Junge, nimm die Sache nicht zu tragisch. Die viertausend Mark werde ich Dir geben. Ich bin Junggesell und hab’ für niemand zu sorgen, und etwas erspart hab’ ich mir auch zu meinem bißchen Vermögen. Kurz, willst Du sie haben, dann schlag’ ein! Dann stell’ ich Dir morgen die Anweisung aus.“

Er sah mich ungewiß an, ein Zittern überlief seine Gestalt. Dann warf er plötzlich die Arme um mich, legte das Gesicht auf meine Schulter und weinte laut. „Ja, Du hast recht, der alte Gott lebt noch!“

„So, Werner, nun laß es gut sein; setz’ Dich hin – hier liegt Deine Cigarre, die rauche gefälligst zu Ende! Und mach’ kein Aufheben von der Geschichte und vor allen Dingen erzähl’ Deiner Frau und Tochter nichts davon, wenigstens nicht, so lange ich hier bin! Später können sie mir ja, wenn sie sich durchaus revanchieren wollen, eine Nachtmütze und ein Paar Pantoffeln machen. – So, das war Abschnitt eins aus dem dritten Kapitel! Der zweite aber beginnt: sei gegen Deine Frau ein barmherziger und gnädiger Herr, wie Du auch einmal einen gnädigen und barmherzigen Gott haben willst, versprichst Du mir das? Wenn ich übers Jahr wiederkomme, zum Stiftungsfest, dann soll sie mit uns hier sitzen. Hand her, Werner!“

„Nun ja – so wahr mir Gott helfe; noch ist’s ja Zeit,“ sprach er, und die ganze Reue von zwanzig Jahren lag in seinem Blick.

„Und nun, Werner, wollen wir zu Bett gehen; es fängt an, kühl und neblig zu werden, und gegen Rheumatismus habe ich eine Art Abneigung. Aber wenn Du in Deiner Speisekammer noch ein Butterbrot flüssig machen kannst, dann soll’s mir lieb sein, und wenn Du einen sogenannten Schnaps dazu hast, dann darfst Du ihn mir ruhig anbieten. So, gieb mir Deinen Arm, und nun mit Marschmusik nach Haus!“ Und ich hub an in dem stillen Pfarrgarten, daß die Bäume verwundert aufrauschten, und er stimmte ein es war der alte Klang aus Studententagen, und er sang es im alten seligen Ton:

„Das Käuzlein laß ich trauern
Auf Zweigen Tag und Nacht,
Ich renn’ aus Schanz und Mauern
Ins offne Feld zur Schlacht.“

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