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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


hör’ eine Bitte!“ Er hob das Gesicht und sah mir gerade in die Augen. „In meiner Seele hat sich’s durch manche Jahre angestaut wie ein See. Ich bin allein gewesen, ganz allein. Nun möcht’ ich einmal die Schleusen aufthun; ich glaube, es wäre gut für mich, und der Augenblick kommt nimmer wieder. Willst Du mir zuhören?“ Er faßte meine Hand mit hartem Druck.

„Ich wollte Dich ja schon darum bitten, Werner!“

„Trink’ aus, ich schenk’ uns ein. Bis das Morgenrot am Himmel steht, feiern wir die Nacht! Sind ja so oft im ersten Morgenlicht singend nach Haus gezogen in seliger Jugendzeit. Aber das Leben hält nicht allen, was es verspricht.“

Eine Fledermaus flatterte geräuschlos um die Laube; da hub er an: „Du bist plötzlich, einem unerwarteten Glück und einem guten Geiste gleich, in mein Leben eingebrochen. Und das war schön, so sehr mich der Schreck auch packte, als Du plötzlich vor mir standest und in Hof und Haus hereinschautest. Hättest Du mir vorher geschrieben, dann hätte ich auf Ausflüchte gesonnen, Dich abzuwehren. Es war gut, daß Du es nicht thatest. Du bist mir doch von Gott gesandt. Ich weiß es ja, diese Stunde wird ein Pflaster auf vieles Leid sein. Nun hör’ die Geschichte eines jungen Knaben, den wir beide gekannt … Er war ein flotter Gesell, nach dem die Frauen und Mädchen gern schauten, und er hatte sich daran gewöhnt – er konnte ohne Frauengunst nicht leben. So kam er als Hauslehrer in eine adelige Familie. Es waren hochmütige Menschen, unter denen er lebte, und sein warmes Herz empörte sich. Er trug den Nacken steif und hoch. So war’s fast Weihnachten geworden. Da kam eine junge Schwester der Frau Baronin ins Haus zu Besuch. Ein reizendes Mädchen, lieblich und frisch und freundlich auch gegen den Hauslehrer – Irmgart von Friesen konnte es einem heißblütigen Manne schon anthun. Es wurde jetzt ein großes Freuen im Hause, und nachmittags tobte die wilde Jagd der Kinder durch die langen Gänge oben im Schloß, in Versteckspielen und Haschen und Finden, und Irmgart und der Hauslehrer immer rastlos dabei in jugendlicher Lust. Nach wenig Tagen schon wußten sie’s, warum sie so gern mitspielten: sie hatten einander gern. So verging die Zeit. Es war am Tage vor Heiligabend. Er war „Blindekuh“ und tappte den schmalen Gang hinunter, der zu seinem Zimmer führte, und um ihn her und vor ihm tobte und lachte die wilde Jagd und lachte mit heller süßer Stimme Irmgart. Sie wollte er fassen. Zum Schein nur griff er nach den anderen. Da ging eine Thür auf. Seinem Zimmer gegenüber war das der Wirtschafterin, eines jungen erst kürzlich zugezogenen Mädchens. Eine blühende schön gewachsene Dirne, die freundlich grüßte, wenn sie einander begegneten. Es war die Thür dieser Nachbarin, die aufgegangen war, und im selbigen Augenblick hielt er das stattliche Mädchen fest umschlungen ,Achtung! Lassen Sie!' schallte fast heftig eine klare Stimme durch den Trubel, es war die Irmgarts dicht neben mir. Ich riß die Binde ab; da stand das Edelfräulein mit dunkelrotem Gesicht, die Hand erhoben als hätte sie nach meinem Arm greifen wollen. Die Wirtschafterin hatte sich ängstlich, mit glühenden Wangen, an die Wand gedrückt und eilte jetzt mit einem gestammelten Wort der Entschuldigung den Gang hinunter.

‚Was hat die Person hier zu suchen?‘ rief Irmgart.

‚Sie wohnt hier!‘

,Was! Ihnen gegenüber?‘ Sie sah mir gerade in die Augen.

,Ich kann’s nicht ändern, gnädiges Fräulein.‘

Sie sagte nichts und nahm mir das Tuch aus der Hand. ,Bücken Sie sich, ich kann so hoch nicht hinaufreichen!‘ Sie schnürte es zusammen, daß mir die Augen schmerzten, und dann mußte ich suchen bis auf den obersten Boden. Hier und dort hörte ich leises Kichern aus den dunklen Winkeln. Ich griff hinein in den allerengsten, faßte eine kleine warme weiche Hand; ich riß die Binde von den Augen – erglühend und zitternd stand Irmgart vor mir. Ein heißer banger Blick und sie lag an meinem Herzen und meine Lippen brannten auf den ihren und ihre auf den meinen – eine flüchtige selige Sekunde. ,Um Gotteswillen, geh’!‘ flüsterte sie und ihre Fingerchen umkrampften meine Hand. Ich ging und eilte auf mein Zimmer. Halb taumelnd fiel ich aufs Sofa und schlug die Hände vors Gesicht. So hatte mein Herz noch nicht geschlagen in heißer Leidenschaft.

Und wir spielten weiter – ein süßes furchtbares Spiel. Aber sie war die Verständigere. Am Tag ehe sie reiste, acht Tage nach Neujahr, hatte sie mich in das kleine Tannendickicht bestellt, das draußen mitten im Felde lag. Als ich kam, war sie schon da. Reizend, bethörend sah sie aus in der weißen Pelzkappe. Sie reichte mir beide Hände, legte sich an meine Brust und schlang die schlanken Arme um meinen Hals. ‚Werner, nun küss’ mich zum letztenmal!‘

‚Zum letztenmal, Irmgart? Ich denke, die Zahl unserer Liebestage –‘

‚Ist abgeschlossen!‘ sagte sie bestimmt. ‚Es war ein holder köstlicher unvergeßlicher Traum, Du lieber, mir immer unvergeßlicher Mann. Aber jeder Traum muß einmal ein Ende haben. Es ist besser so, Werner.‘ Noch lag sie in meinem Arm. Ich ließ sie los. In meinem Herzen war irgend etwas entzweigegangen unter ihrer Rede. ‚Nun, dann war’s eben ein hübscher Zeitvertreib!‘ sagte ich ruhig und wandte mich zum Gehen.

‚Werner!‘ klang es klagend hinter mir her. Ich wandte mich nicht. Ich habe den Klang ihrer Stimme nicht wieder gehört.

Bis Mitternacht irrte ich durch den Schnee. Als ich an meine Kammerthür kam, brach ich zusammen. So lange hatte meine Kraft vorgehalten, nicht länger. Da ging die Thür der Wirtschafterin auf. ‚Herr Kandidat, soll ich Ihnen helfen?‘ flüsterte sie. Sie hielt mich wohl für betrunken. Sie, die Mamsell, mir helfen? Ich raffte mich mühsam auf. ‚Ja, machen Sie mir eine Tasse Thee!‘ stöhnte ich.

Ich saß im Dunkeln in meiner kalten Stube und meine Zähne schlugen zusammem. Ich dachte an nichts – vielleicht ans Sterben. Da ging die Thür leise auf, und unhörbar trat die Wirtschafterin ein, das Licht in der einen, die Theekanne in der andern Hand. Sie war ein hübsches Mädchen, wie der gelbe Schein der Kerze so ihr Gesicht überflutete. Und sie war ein gutes Mädchen. Sie wagte ihren Ruf und ihre Stellung, um mir Gutes zu thun. Ich trank den Thee, den sie mir einschenkte; meine bebende Hand konnte die Kanne nicht halten. Sie that etwas Rum hinein.

‚Viel, viel mehr!‘ sagte ich. Meine Stimme war rauh und heiser. ‚Und nun gehen Sie!‘ Sie ging, aber noch von der Thür aus warf sie einen bangen besorgten Blick auf mich.

Am Morgen hörte ich den Wagen vorfahren und bald darauf rollte er die Rampe hinab. Er brachte Irmgart zur Bahn. Ich verschlang die Hände im Nacken und biß die Zähne zusammen.

‚Meiune Schwester läßt Sie grüßen,‘ sagte die Baronin beim Mittagessen. ‚Sie hatte Sie beim Morgenkaffee erwartet. Sie sind wohl spät nach Hause gekommen?‘

‚Jawohl, gnädige Frau, sehr spät!‘

Sie rümpfte die Nase, aber sagte nichts.“

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüten.

Das Telldenkmal für Altdorf. (Zu dem Bilde S. 609.) Auf dem Rathausplatz zu Altdorf steht ein Turm, der auf der Stätte jener Linde errichtet sein soll, unter welcher nach der Sage Tells Knabe hielt, als der Vater auf des Landvogts Geßler Gebot den Apfel ihm vom Haupte schießen mußte. Auf der Nordwestseite dieses Turmes wird in Kürze Richard Kißlings großes Telldenkmal seinen Platz finden, dessen fertiges Modell unsere Abbildung im Atelier des Meisters vorführt. Und zwar wird in die den Hintergrund für das Denkmal bildende Turmfläche ein Bronzerelief eingelassen werden, welches das Schächenthal und den Fußsteig von Bürgeln nach Altdorf zeigt, so daß im Beschauer der Eindruck erweckt wird, als sei Tell mit seinem Sohne, jenen Steig herabschreitend, eben zu der Stelle gekommen, auf der er jetzt steht.

Ein Bild stolzer Männlichkeit und Schönheit ist dieser Tell; fest und sicher tritt er auf, das Antlitz voll tiefen Ernstes und ruhiger Entschlossenheit, die Armbrust auf der Schulter, denn „ihm fehlt der Arm, wenn ihm die Waffe fehlt“. Schützend legt er die Linke um den Hals des Sohnes, der ihn fröhlich plaudernd geleitet. Die Gruppe, die jetzt in einer Pariser Gießerei in Erz gegossen werden wird, erreicht mit dem Fels, auf dem sie steht, eine Höhe von 4 Metern, der Sockel wird 3 Meter hoch. Letzterer erhält auf seinen vier Seitenflächen Bronzereliefs mit Darstellungen aus der Tellsage: den Apfelschuß, den Sprung aus dem Herrenschiff, den Tod Geßlers und Tells Ende. Bis das Denkmal fertig ist, wird wohl noch ein Jahr vergehen; die auf etwa 150000 Franken bemessenen Kosten sind von Bund, Kantonen und Volk zusammengesteuert worden.

Richard Kißling, der Schöpfer des Denkmals, ist 1848 zu Wolfwyl im Kanton Solothurn geboren. Anfänglich zum Steinhauer bestimmt, zeigte er bald so hervorragendes Modelliertalent, daß man ihn zu Schlöth nach Rom in die Lehre schickte. Und nun legt bereits eine ganze Reihe ausgezeichneter Werke in der Schweiz und anderwärts Zeugnis ab von der Höhe, die seine Kunst erklommen hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_611.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)