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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Fabrikanten erhaltene Material und zahlt für den Stuhl je nach seiner Beschaffenheit und der Art der Beschäftigung für die Woche 10 bis 50 Pfennig Zins.

Inneres einer Handschuhwirkerstube.

Wir sehen auf dem unten abgebildeten Stuhle schon ein geteiltes Stück Ware zu zwei Paar Handschuhen mit durchbrochenem, kunstvoll gearbeitetem Anfang, der auf einem anderen Stuhle gemacht worden ist. Alle möglichen Muster finden wir in diesen Anfängen vertreten, sämtlich mit der Hand frei aus dem Gedächtnis in die Ware hineingearbeitet: Blumen, Ranken, Blätter, Bäumchen, Guirlanden, Sterne, Streifen, Puffen, Vier-, Sechs-, Achtecke etc., deren ansprechende Zusammenstellung dem Arbeiter vielfach selbst überlassen bleibt. Für diese Figuren werden kleine Löchelchen hergestellt durch Ueberhängen der einen Masche auf die andere mit Hilfe einer auf die Träger k zu legenden Vorrichtung (Petinet-Maschine), welche der unter l sichtbaren, auf unserem Bilde jetzt außer Thätigkeit befindlichen Mindermaschine ähnlich ist. Der Mann muß dabei alle Aufmerksamkeit seiner Arbeit widmen; denn ein einziger Fehlgriff verdirbt ihm zwei paar Anfänge und beraubt ihn des sechsten Teiles seines Tagesverdienstes. Ja, er hat Ursache, sehr fleißig zu sein, wenn er täglich ein Dutzend Paare derartiger Anfänge mittlerer Länge vollenden will.

Mit den Füßen bewegt der Wirker die Tritte a, wodurch sich die Welle b um die eigene Achse dreht und zum Werden der Masche die eigenartig geformten, senkrecht stehenden Stahlplättchen c, sog. Platinen, niederdrückt. Den Faden dazu holen sich diese von den oben auf den Galgen d befindlichen Spulen durch die herüber und hinüber laufenden Fadenführer e. Das Treten des Teiles f bringt vermittelst der Holzschiene g die eiserne Presse h auf die Nadeln, was mit dem durch die Druckstange i gleichzeitig erfolgenden Herüberziehen des Werkes die neugewonnene Masche zu der auf den Nadeln schon hängenden Ware reiht. So geht das weiter, bis diese bis zum Daumen fertig ist. Nachdem sie abgesprengt worden, sind noch vier Paar Längen auf gleiche Art dazu zu machen. Alle sechs Paare werden dann an der Daumenstelle in der Breite des Daumens wieder an die Nadeln gestoßen. Das Wirken beginnt nun von neuem, bis schließlich bei der Fingerkoppe unter Inanspruchnahme der auf die Träger k gelegten Mindermaschine l das Verschrägen der Fingerspitze durch Zusammenlegen der Maschen bewirkt wird. Seit einigen Jahren verstärkt man auch die Fingerkoppe durch Hinzufügen eines weiteren Fadens, wodurch die sogenannte Doppelspitze entsteht Das jetzt fertig gewordene Stück wird in Daumenbreite mit Längsschnitten versehen und damit sind die 12 Daumen für ein halbes Dutzend Paar Handschuhe fertig. Bei der Abendarbeit wird an der Seite des Stuhles in die Oese m ein Leuchter mit Lichtkugel n gestellt, eine mit ganz klarem Wasser gefüllte Glaskugel, eine sogenannte „Schusterkugel“, die den Schein der dahinter befindlichen Lampe auf die Nadeln wirft.

Am Wirkstuhl.

Bei einer vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauernden Arbeit, die Füße, Arme und Hände und nicht zum wenigsten die Augen in Anspruch nimmt, bringt ein geübter Wirker, wie gesagt, zwölf Paar Handschuhe zu stande. Viel hat ihm das nicht eingebracht, höchstens 2 Mark 20 Pfg., und dabei muß er noch Stuhlzins und Auslagen für Bruch von Nadeln und Platinen bestreiten. Diejenigen jedoch, welche nicht im Besitze eines solch breiten und guten Stuhles sind und daher keine Handschuhe mit verschrägten Fingerkoppen machen können, erschwingen nur reichlich die Hälfte jenes kleinen Betrages. Bloß tüchtige und fleißige Wirker von durchbrochenen seidenen Anfängen bringen es bei anhaltender Beschäftigung auf 13 bis 14 Mark in der Woche. Auch können nur Leute, die noch gute und scharfe Augen haben, die Arbeit verrichten. Die Feinheit der Maschen kann man sich erst vorstellen, wenn man erfährt, daß 23 Nadeln auf einen Leipziger Zoll kommen und mithin beispielsweise an dem oben beschriebenen Stuhle 23 Nadeln x 33 Zoll (= 78 cm), also 759 Nadeln unausgesetzt beobachtet werden müssen. Man muß wahrhaftig staunen über die Ausdauer und die Genügsamkeit dieses fleißigen Völkchens.

Jede Wirkerstube hat ihr Spulrad. Sehr oft müht sich ein schulpflichtiges Kind mit dem Spulen des feinen Flors für den Wirker, den dieser ebenso wie die Seide vom Fabrikanten in Strähnen zum Verarbeiten erhält.

Ist der Handschuh auf dem Stuhle fertig, so bekommt ihn das Wirkerkind zum Fädeln. Es reiht von den Fingerkoppen die Maschenhenkel mit der Nähnadel an einen Faden, zieht solchen zusammen und verknüpft ihn. Nun erst kann die Frau des Arbeiters den Handschuh auf der Nähmaschine zuaammennähen. Dann fehlen zur schließlichen Vollendung bloß noch die seidenen Nähte oben auf der Hand. Diese Arbeit wird ebenfalls zum größten Teile in der Wirkerstube verrichtet, indem der Handschuh in kleine Maschinen eingespannt und der Zwickel mit der Hand aufgenäht wird.

So ist in der Regel die ganze Familie in der Handschuh-Erzeugung beschäftigt: der Mann am Wirkstuhl, die Frau an der Nähmaschine, zum Wirken nicht Fähige am Spulrad, kleinere Kinder beim Fädeln, größere in der Zwickelei. Oftmals aber kommt es vor, daß die Frau das Wirken ebenso erlernt hat und betreibt wie der Mann.

Wir begleiten jetzt unseren Freund zu seinem Arbeitgeber; er will die fertige Ware abliefern und sich frische Beschäftigung holen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_573.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)