Seite:Die Gartenlaube (1894) 570.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

wenn er Weßnitz halten wollte – war da eine Doktorin der Medizin die richtige Gefährtin?

Hinter diesen Gedanken versteckte er sich vor sich selbst, vor der inneren Stimme, die sich immer wieder heimlich regen wollte, die ihm zurief: sei kein Narr, sei ein freier Mensch – sie ist eine reine edle Natur, was kümmert dich da ihre Herkunft!

Nein, nein, er durfte nicht nachgeben, es ging nicht!

In diesem Sinne beantwortete er den Brief des Doktors, ohne weiter zu überlegen, hastig, mit dem unbestimmten Gefühl, daß weiteres Nachdenken ihn in seinem Entschluß wankend machen könnte. Er verschwieg nicht, daß ihn die unerwartete Mitteilung erschreckt und betrübt hatte, aber das Hauptgewicht legte er auf die Gestaltung seiner äußeren Verhältnisse. Er habe kein Recht, das Schicksal eines Mädchens an sein Leben zu ketten, ohne zu wissen, wie seine Zukunft sich gestalten werde.

Der Brief war fertig, zur Post gebracht, aber den Schlaf raubte er ihm doch in den nächsten Tagen. Er hatte das Gefühl, als habe er in sich selbst einen dunklen Winkel gefunden, den er nicht beleuchten dürfe, ohne zu erröten.

Nach einigen Tagen kam ein Brief – er enthielt sein eigenes Schreiben. Darunter stand mit großer fester Schrift: „ Gelesen! Edda Helm.“

Ihm war zu Mut, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Abscheulich! Beleidigend! Mit einem wahren Ingrimm stürzte er sich in seine Geschäfte, und wenn in ihm trotzdem Bedenken auftauchen wollten über seine Handlungsweise, Erinnerungen an jenen Tag im Grunewald, dann schaute er zu den Bildnissen seiner Eltern auf und murmelte: „Ich war es Euch schuldig.“ Aber leichter wurde es ihm nicht ums Herz.

Schließlich kam eine Art von Verstocktheit über ihn; er klammerte sich fest an die Pflichten die er seinem Namen, seinem Stande zu leisten habe, die er Bruno und Lore gegenüber erfüllen müsse. Den Kopf mühsam aufrecht tragend, ging er mit hartem Gesicht über Hof und Felder, legte überall selbst Hand an und versagte sich die bescheidensten Bedürfnisse. Aber einsame Stunden kamen doch immer, in denen er sich widerwillig bewußt ward, daß es eine wunde Stelle in seinem Herzen, in seinem Gewissen gebe.


Zum zweitenmal, seit Hermann sein Erbe angetreten hatte, war es in Weßnitz Winter geworden. Die braune Heide, der erschauernde seufzeude Tannenwald – alles zugedeckt mit den unendlich sich übereinander lagernden weißen Flocken, und noch immer schneite es unaufhörlich, als gälte es, alles zu begraben, alle Höhen und Tiefen zu ebnen. Der pfeifende Sturm jagte den Schnee, der hier sich wirbelnd in einer Hausecke fing, dort sich wieder hoch in die Lüfte erhob, ohne Unterlaß vor sich her, hinein in die ragenden Baumwipfel jenseit des Teiches.

Die Dämmerung sank herab, schwer und bleiern; zum letztenmal flammte ein glutrotes Sonnenlicht auf hinter den Höhen der Heide, als grüßte eine riesige leuchtende Götterhand segnend die Erde.

Hermann stand am Fenster in seines Vaters ehemaligem Arbeitszimmer und blickte sinnend in die trostlose Oede. Schon eine Stunde verharrte er so, grübelnd die Arme über der Brust gekreuzt. Ein elender Kampf ums Dasein! Zwei Krähen stritten da draußen wütend um eine Brotrinde, Federn stoben, dann flog die eine besiegt, heiser krächzend davon. Ueberall derselbe Kampf, Hunger und Durst, die ewigen großen Triebfedern alles Lebens! Wie viele Monate waren vergangen, seit er die starken Schultern gegen das morsche unterwühlte Gebälk seines Erbes stemmte, Monate voll Arbeit, voll Verdruß, ein unausgesetzter Streit mit Kleinigkeiten, dabei immer das Gefühl, als müsse ihm ein böser Zufall das ganze Werk vernichten. Aber er hatte den Mut nicht sinken lassen; es war ihm gelungen, vorwärts zu kommen, ja sogar etwas von der Schuld abzutragen, mit der er das Gut hatte noch mehr belasten müssen, um die Wirtschaft neu einzurichten. Aber was konnte die Zukunft alles bringen? Wenn nun auch einmal Mißerfolge kamen! Wann durfte er endlich an sich denken?

Während der ganzen Zeit hatte der Gedanke an Edda in seinem Inneren genagt; oft war das Schuldgefühl und die Sehnsucht mächtig in ihm geworden, dann wieder ein verbissener Trotz, als habe er nicht anders handeln dürfen. Hätte er an der Seite Eddas so karg und zurückgezogen nur seiner Arbeit leben können? Und was würde aus Bruno und Lore geworden sein? Nicht einmal die kleine Unterstützung, die der Bruder im ersten Jahr aus dem Gut erhielt, wäre zu erübrigen gewesen.

Mit großen Schritten wanderte Hermann jetzt auf und ab, nach seiner Gewohnheit immer in derselben Richtung hin und zurück; die eichenen Dielen zeigten genau den Weg, den er Tag um Tag machte – faserig und rauh erschien an dieser Stelle die Oberfläche der altersdunklen Bohlen.

Diese seine Gewohnheit fiel ihm heute selbst auf, er dachte voll Bitterkeit an das ruhelose Auf- und Abwandern des gefangenen Tieres in seinem Käfig, eines Sträflings in einsamer Zelle. Doch nein! Er warf den Kopf zurück. Nicht gekettet, nicht gefangen! Aus freien Stücken ging er hier einsam seinen Weg, mit hartem Tritt, er kämpfte einem selbstgewählten Ziele zu. Sein Blick fiel auf das lebensgroße Bild seines Vaters über dem Schreibtisch. Ein kraftvoller Männerkopf, stark und stolz! „Ja, so will ich sein und bleiben, Vater, so wie Du warst! Noch kurze Zeit, dann darf ich den Brief öffnen, den ich in Deinem Schreibtisch fand. Was magst Du mir noch zu sagen haben?“

Seine Gedanken wanderten weiter zu Bruno und Lore. Der Bruder mußte sich geändert haben, er lebte ohne Frage jetzt vernünftiger, denn er hatte sogar im Herbst freiwillig auf seinen Zuschuß verzichtet. Das war ein Freudentag für Hermann gewesen. Aber was war mit Lore? Er senkte finster den Blick. Sie würde nie wieder so werden wie einstmals. Gebrochen, fast willenlos, war sie an der Seite ihres Mannes geblieben. „Ich weiß, welche Opfer Du dem Namen Deiner Väter gebracht hast, ich will nicht zurückstehen, sondern bleiben, wo ein Schwur mich bindet, und meinen Knaben in Deinem Geist erziehen,“ hatte sie ihm vor Jahresfrist geschrieben. Es war so selbstverständlich, daß nur die Pflicht sie hielt, daß sie den Gatten nicht mehr zu lieben vermochte. Daß ein Weßnitz so schwach sein konnte!

Müde ließ er sich vor dem Schreibtisch nieder und begann in dem großen Wirtschaftsbuch zu blättern. Eintönig tickte die Uhr in ihrem eichengeschnitzten Gehäuse. Leise trat der alte Diener seines Vaters ein und übergab ihm ein Telegramm. Von wem nur? dachte Hermann und öffnete den Umschlag.

„Komme heute abend halb Zwölf mit Edgar in Weßnitz an. Bitte Wagen! Lore.“

Er erschrak. Was war vorgefallen? Rasch flog sein Blick zur Wanduhr. Schon ein halb elf Uhr.

„Der Kutscher soll anspannen! Meine Schwägerin kommt in einer Stunde. Lassen Sie die Fremdenzimmer in Ordnung bringen!“

„Nein, die Freude!“ meinte der alte Johann und ging eilig hinaus.

„Freude!“ wiederholte Hermann bitter und faltete mechanisch das Telegramm zusammen. Ob sie Freude brachte?

Eine seltsame Unruhe erfaßte ihn, er ging in die Küche, bestellte ein Abendessen, blickte selbst in die Gastzimmer. Qualvoll langsam verrann die Zeit. Da schallte vom Hofe herauf Peitschenknallen. Rasch eilte Hermann hinab, mit herzlichem Gruße hob er Lore aus dem Schlitten, dann Edgar.

„Guten Abend, Hermann,“ flüsterte sie nur und stützte sich schwer auf seinen Arm beim Ersteigen der Treppe.

„Legt Eure Mäntel ab und wärmt Euch!“ sagte er, in seinem Zimmer angekommen. Es war ihm, als schnüre ein eiserner Reif seine Brust zusammen. Wortlos folgte Lore seiner Aufforderung. Er sah, wie sich ihr bleiches Gesicht aus den Umhüllungen losschälte. Dann stand sie stumm, mit herabhängenden Armen, dicht am Kamin, Hermann an seinem Schreibtisch gerade aufgerichtet, die Rechte krampfhaft um die geschnitzte Lehne des Stuhles geschlossen. Nun wußte er gewiß, es war etwas vorgefallen, etwas Entscheidendes, Furchtbares.

Und dann ein Schrei, jäh aus einer geängstigten Brust sich losringend. „Hermann! Hermann, rette, rette uns! Ihn, mich! Dem Kinde den ehrlichen Namen!“

Sie lag vor ihm auf den Knien, ihre eiskalten zitternden Finger tasteten nach seiner Hand; und daneben stand, das feine Köpfchen gesenkt, mit einem rührend fragenden Kinderblick und zum Weinen verzogenen Mundwinkeln, Edgar, ihr Knabe.

Es war still, ganz still. Hermann beugte sich nicht herab, sein Blick war ins Weite gerichtet, starr, als erblickte er grausend ein Medusenhaupt. Keine Muskel an ihm zuckte, nur die Faust auf der Stuhllehne preßte krampfhaft das geschnitzte Holz.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_570.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)