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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

so ganz anders war! Und wie herzlich er sich gezeigt hatte, wie vertrauend! War es denn denkbar, daß er ihr Gefühl erwiderte? O, sie wollte ihm helfen, den alten Lebensmut wiederzufinden; alles wollte sie von sich werfen, ihren Beruf, selbst ihre Dienste für den Vater, wenn sie nur für ihn leben konnte! Aber – dachte er überhaupt in dieser Weise an sie? War es nicht nur ein augenblickliches Gefühl innerer Hilflosigkeit, das ihn in ihre Nähe zog?

„Wo seid Ihr denn?“ ertönte plötzlich des Vaters Stimme aus dem Nebenzimmer.

Sie fuhr erschreckt zusammen.

„Wie, Weßnitz ist schon fort? Weiß Gott, es ist bald Mitternacht! Da gehen wir wohl zur Ruhe? Gute Nacht, Edda!“

*  *  *

Hermann machte von der ihm erteilten Erlaubnis Gebrauch. Er kam oft in die stille Wohuung des Doktors, in der Regel abends, und in anregender Unterhaltung flossen dann die Stunden dahin. Ein Heimatgefühl beherrschte ihn, wenn er in die Stube trat und der Doktor ihm wie einem guten alten Bekannten freundlich zunickte, ohne seine Thätigkeit zu unterbrechen, während Edda das Abendessen bereitete, bei dem sie sogar seine kleinen Lieblingsgerichte berücksichtigte.

Oft fehlte der Doktor, wenn Berufspflichten ihn abriefen. Dann saß Hermann wohl den ganzen Abend mit Edda allein und geheimnisvolle Fäden spannen ein Band von Herz zu Herz. So war Edda noch nie gewesen, so heiter, so sanft, so blühend gesund. Selbst ihre früher stets bleichen Wangen zeigten jetzt ein jugendfrisches Rot. Hermann bemerkte mit wachsendem Anteil diese Veränderung. Ihr kluges interessantes Gesicht wurde ihm täglich lieber und vertrauter, und in einsamen Stunden sehnte er sich nach ihrer Anwesenheit, er träumte davon, wie herrlich es sein müßte, dies trotzige Mädchen einmal in den Armen zu halten und von diesem weichen Mund geküßt zu werden. dem er einst heimlich den ersten Kuß geraubt.

Bei schönem Wetter machten die Drei Ausflüge in die Umgebung Berlins. Das waren Stunden reinster Erholung. Vater und Tochter, die sonst nur den schweren Forderungen ihres Berufes lebten, wurden in der freien Natur zu zwei großen Kindern. Der Alte pfiff lustige Studentenlieder, fing mit jedem, den der Weg mit ihnen zusammenführte, in seiner humorvollen Art Gespräche an, besonders mit Leuten aus dem Volk, mit denen er trefflich umzugehen wußte. Oft wunderte sich Hermann, wie bekannt dieser Armendoktor war, wie ehrerbietig Hüte und Mützen sich von den Köpfen lösten, wie freundlich die Leute dem alten Herrn im dichten Gedränge Platz machten.

Für einen Sonnabend hatte Hermann mit den Beiden einen Ausflug nach dem Grunewald verabredet. Pünktlich traf er ein, in Civil gekleidet, aber nur Edda empfing ihn.

„Wo ist Ihr Herr Vater?“ fragte er erstaunt.

„Zu einer schweren Operation abgerufen. Er bat mich, wir sollten uns durch seine Abwesenheit nicht stören lassen. Ich bin fertig!“ Hermanns verlegenes Gesicht gewahrend und sofort seine Gedanken erratend, begann sie zu lachen. „Sie bleiben doch stets derselbe! Sollen wir aus Rücksicht auf eine oberflächliche alberne Form den heutigen Ausflug unterlassen, bei diesem herrlichen Wetter?“

„Nein, nein ich dachte nur – –“

„Sie dachten, daß es nicht schicklich sei für uns beide, ohne Begleitung in die freie Natur zu gehen! Würden Sie mit Ihrer Schwester nicht unbedenklich allein nach dem Grunewald fahren?“

Nun mußte auch er lachen über den unnachahmlichen gutmütig spottenden Ausdruck ihres Gesichts. Schließlich kannte ja auch niemand diese Edda Helm! Trotzdem schaute er sich im Pferdebahnwagen halb scheu um, ob nicht zufällig irgend ein Bekannter einsteigen würde, und atmete erst auf, als er nach längerer Wanderung mit Edda einen Waldpfad einschlug, dessen Einsamkeit ihn vor einem zufälligen Zusammentreffen mit Bekannten hinlänglich zu schützen schien.

Es war ein warmer sonnenheller Maitag, der Wald friedlich und still, ein sprossendes Werden und Drängen in Baum und Strauch. Hell klang des Spechtes fröhliches Pochen am morschen Stamm und flinke Meisen fuhren blitzschnell an den Baumästen hin und her. Eine feuchtwarme Luft lagerte über dem Wald, würziger Harzduft zog durch die rötlichen von Sonnenlichtern durchspielten Kiefern. Die beiden einsamen Wanderer schwiegen. Die Einsamkeit, die friedliche Stille hielten jedes Wort zurück.

Edda atmete tief und langsam, die herrliche Luft begierig einsaugend, während ihre dunklen Augen träumerisch rechts und links in den Wald schweiften. Ein Reh sprang über den Weg, unwillkürlich hemmte Edda den Fuß und faßte nach ihres Begleiters Hand. Sie schauten beide dem flüchtigen, durch die Stämme huschenden Wilde nach, dann setzten sie sinnend ihren Weg fort.

Auf der Höhe eines Hügels, zu dem sie in lockerem Sandweg etwas mühsam hinaufgestiegen waren, blieb Edda stehen und strich erhitzt mit beiden Händen über ihr glattgescheiteltes Haar, von dem sie den einfachen Strohhut abgenommen hatte. Wie auf Verabredung ließen sie sich am Waldrand auf einem Raine nieder.

Sie hatten beide das Gefühl, als seien sie hier ganz allein auf der Welt. Dichtes Unterholz rings umher, kein Geräusch vom Getriebe der arbeitenden Menschheit, die große Stadt hinter ihnen, als sei sie versunken. Er trocknete sich langsam die Schweißperlen von der Stirn. Edda hatte die Handschuhe ausgezogen, zupfte einige Kräuter aus und blickte sinnend auf die zarten Frühlingskeime.

Hermann sah seine Begleiterin stumm von der Seile an und unwillkürlich mußte er an jenen Gesellschaftsabend bei seiner Schwägerin denken. War es nicht, als sei diese Edda damals ein ganz anderes Menschenkind gewesen? Die Scene fiel ihm ein, als sie ohnmächtig wurde, das Unrechl, das er sich hatte zu Schulden kommen lassen, da er die Hilflose küßte, schien ihm auf einmal in diesem vertrauensvollen Alleinsein doppelt schwer, und einem unwiderstehlichen Drange folgend, begann er unvermittelt: „Wissen Sie, daß ich Ihnen etwas abzubitten habe, ein großes Unrecht, das ich gegen Sie begangen habe?“

Edda wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. „Sie mir?“ fragte sie verwundert. „Sie haben mir ein Unrecht äbzubitten?“

Sie stützte, während sie sich zu ihm wandte, die Hand ins Moos und berührte dabei die seine, ohne es zu wollen.

„Ja.“ Er senkte den Blick unter dem Blick der auf ihn gerichteten dunklen Mädchenaugen. Sein Herz pochte laut in hämmernden Schlägen. „Ja, ein Unrecht! Können Sie sich noch erinnern, wie ich Sie an jenem Abend bei meiner Schwägerin ins Nebenzimmer führte?“

„Ja, ich wurde ohnmächtig.“

Ihr war seltsam zu Mut. Hermanns Stimme, seine Art zu sprechen, war auders wie sonst. Er bohrte den Spazierstock tief in den trockenen Sand. „Damals, als ich mich über Sie beugte, um zu erfahren was Ihnen wäre, da habe ich Sie – geküßt!“

Es wurde ganz still. Hermann wagte nicht, aufzusehen, nur unter den Wimpern hervor bemerkte er, wie ihre Rechte sich fest um einen Busch Gräser am Wegrand schloß. Keine Silbe, kein Laut!

Behutsam, scheu schaute er endlich auf. Sie saß da, mit gesenktem Kopf, die Augen zu Boden gerichtet; unter den dunklen Wimpern hervor blinkte es wie Thränen, und dann rannen die Tropfen langsam über die Wangen hinab.

„Edda!“ flüsterte er, „Edda, können Sie mir verzeihen?“

Da sah sie auf – war es Zorn oder Schmerz, Freude oder Vorwurf, was in diesem Aufschauen lag? Hermann verstand es nicht, er fühlte nur den unwiderstehlichen Drang, sich Verzeihung zu erflehen, und warf sich ihr bittend zu Füßen. Was dann geschah – er wußte es nicht. Aber mit einmal ruhte sein Haupt in ihrem Schoß und ihre Hände strichen liebkosend über seine blonden krausen Haare. Er spürte ihren Atem an seinem Ohr.

„Edda! Edda! Ich hab’ Dich lieb!“

„Du! Du mich?“ Ein Schrei, ein Jubelruf schallte durch die Stille. Ihre Lippen hingen an den seinen, ihre Arme preßten sich um seinen Nacken. „Küsse mich, küsse mich wieder, Hermann!“ Sie stieß es selig hervor.

O, wie er sich geborgen fühlte in diesen Mädchenarmen! Es war ihm, als würde er von Wolken emporgehoben, als versänke alles Irdische unter ihm.

„Dich liebe ich, Hermann! Auf der Welt nur Dich!“ stammelte sie. „Dein Weib will ich sein, ich gehöre Dir ganz mit Leib und Seele!“

Schon sank die Dämmerung herab, der Abendruf der Drossel schallte aus dem Gebüsch. Da wanderten sie beide Hand in Hand den Weg zurück.

„Ich fürchte mich vor den Menschen“ flüsterte Edda, sich an ihn schmiegend.

Ein weltvergessener Ausdruck lag in seinen Zügen, er antwortete nicht. Ehe der Waldpfad ins Freie führte, blieb sie stehen.

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