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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

erklären. Er sagte ihr, daß es nicht immer in der Willkür eines Volkes und seines Fürsten liege, so oder so zu handeln, wie das Herz es eben verlange, daß immer eins vom andern abhängig sei, daß ein Volk sich manchmal fügen müsse, selbst gegen seine bessere Einsicht, um größeres Unheil zu verhüten. Er sprach gut, mit jener warmen Begeisterung, die ihren Eindruck auf die Jugend nie verfehlt, die auch zu diesem jungen Herzen sprach, so sehr es sich auch sträubte.

„Und was auch immer gefehlt sein mag,“ so schloß er, „ein gerechtes Herz darf überhaupt das schuldlose Volk nicht entgelten lassen, was die Diplomaten vielleicht gesündigt haben. Bedenken Sie doch einmal, weshalb wir herkommen! Ist das nicht genug, Fräulein Marie?“

Und da sie nicht antwortete, sagte er nachdrücklich: „Es ist doch wahrlich kein Kinderspiel, Blut und Leben einzusetzen, um ein Nachbarvolk aus der Knechtschaft zu erlösen. Können Sie das denn nicht begreifen, Kind?“

Sie schwieg noch immer und starrte hartnäckig zu Boden. Da stieß er seinen Stuhl zurück und rief ungeduldig. „Oder finden Sie das dänische Joch etwa so süß?“

„Ich? Gottbewahre!“ fuhr sie empört auf, und die schwarzen Eichkätzchenaugen funkelten den preußischen Jäger zornig an.

„Nun, was dachten Sie denn dann?“ forschte er mit einem tiefen Blick an diese sprühenden Augen, die ihm besser gefielen als all die sanften Frauenaugen, die er je im Leben gesehen hatte.

„Daß ich eine Schleswig-Holsteinerin bin,“ sprach das junge Mädchen stolz.

„Und daß Sie es bleiben möchten?“ fragte er mit sonderbarer Betonung.

Das Katteeker sah den Offizier verständnislos an. „Ja – natürlich!“ gab sie unbefangen zurück.

Ein leiser ungeduldiger Seufzer, dann eine Pause und endlich die Frage. „Wollen wir Waffenstillstand machen, Fräulein Marie?“

Nach kurzem Besinnen schlug sie in die dargebotene Hand ein, und ein prüfender, aber nicht unfreundlicher Blick streifte sein offenes männliches Antlitz.

„Also Friede?“

„Nein, nein, nur Waffenstillstand!“ rief sie hastig und lief hinaus. Gerhard Wien aber blickte ihr nach, als hätte er seine Freude an diesem Trotz und Stolz.

Von Stund’ an war das Katteeker wieder mit der alten Ausgelassenheit auf dem Posten und niemand im Hause durfte sich über allzu große Ruhe beklagen. –

Frau Genthin stand in ihrer Speisekammer, ganz vertieft in die friedliche Beschäftigung, ein paar Dutzend Butterbrote für ihre großen und kleinen Pflegekinder zu streichen. Da erhob sich nebenan in der Küche ein energischer Widerspruch von seiten der alten Stine.

„Ne, ik dah’t nich, Frölen! Ik bün all to old, üm nu noch Französch to liehrn[1], un wenn Se’t dörchut wüllt, denn stelln Se Duris man darto[2] an!“

Frau Hedwig wollte sich schon nach der französischen Lehrmeisterin umsehen, da wurde ihr der Schlächter gemeldet. Aber die Aufklärung sollte dennoch für sie kommen.

Kurz vor Tisch, als die ganze Familie im Wohnzimmer versammelt war, that sich die Thür auf, und das jugendliche Kindermädchen erschien, sah sehr rot und sehr unglücklich aus und meldete stockend: „Madam’ is Herr Wien.“

Erstaunt blickte die Hausfrau auf. „Was willst Du, Doris?“

„Madam’ – Madam’ is – is Herr Wien,“ stotterte Doris und krümmte sich förmlich vor Verlegenheit.

„Ach, dieses Plattdeutsch!“ seufzte die Hausfrau ratlos. „Das werde ich wohl in Ewigkeit nicht lernen. Sprich deutlich, Doris, ich verstehe kein Wort. „Was soll ich?“

Da war’s vorbei mit aller Fassung; beinahe schluchzend stammelte Doris: „Nix nich, Madam’! Man de Supp is upgewen,[3] un de Terrin’ staht uppen Disch, un uns’ Frölen sä[4] jo ...“

Jetzt tagte Frau Genthin das Verständnis. „Dacht’ ich mir’s doch!“ rief sie, halb lachend, halb ärgerlich und sah sich nach ihrer Nichte um. Aber Katteeker war spurlos von der Bildfläche verschwunden, und auch Doris benutzte die Gelegenheit, sich aus dem Staube zu machen, wurde jedoch von der Hausfrau erwischt und ins Verhör genommen. Lachend kehrte sie zu ihrem Gast zurück.

„Du wolltest ja immer nicht glauben., was für ein Ausbund das Mädel ist – da hast Du nun einen von ihren Streichen,“ sagte sie. „Meine Nichte hat sich in anerkennenswertem Lehreifer abgequält, unserer Doris ein paar französische Brocken beizubringen. Und was ist das Ende vom Liede? Daß meine gute Doris sich das unverständliche ‚Madame, il est servi‘ ganz einfach etwas mundgerechter macht und nun auf gut Plattdeutsch sagt: ,Madam’ is Herr Wien‘. Also bitte zu Tisch, Herr Vetter!“ schloß die Hausfrau in heiterem Ton, rief die Kinder herbei und schritt mit ihrem Gaste ins Eßzimmer.

Es war nur ein Scherz, wie Katteeker sie das Jahr über dutzendweise zu liefern pflegte, aber hätte sie geahnt, wie dieser harmlose Scherz zum geflügelten Wort werden und in hundertfacher Verdrehung seine Runde durch die ganze Stadt machen würde, nie hätte sie sich und Doris mit dem Einstudieren französischer Redensarten gequält.

Die alte Stine kam vom Markt zurück, stellte ihren schwerbeladenen Korb in die Küche und stieg sogleich mit entschlossenen wuchtigen Schritten die Treppe hinauf und geradeswegs ins Kinderzimmer, wo „Neihersch“, wie jeden Sonnabend, über ihrer Arbeit saß. Breitspurig stellte sie sich vor die kleine Verwachsene hin, und da diese nicht sofort Auge und Ohr für sie war, rief sie herrisch: „Jette Hitzfeld!“

„So heet ik,“ gab die Angeredete mit voller Seelenruhe zurück und machte den letzten Stich an einem kunstgerechten Flicken.

Stine sah ein, daß „Neihersch“ durchaus nicht willens war, ihr entgegenzukommen; deshalb trat sie noch dichter heran und fragte in geheimnisvoll vertraulichem Flüsterton: „Neihersch, sall ik nu wohl to’n irsten März künnigen?“

„Worüm nich?“ fragte die Näherin ohne eine Spur von Verwunderung zurück, denn so lange sie hier im Hause nähte, hatte Stine fast jedes Vierteljahr diese Frage an sie gerichtet. Der geringste Anlaß genügte, um die brave alte Person vor einen so folgenschweren Entschluß zu stellen.

„Ik bün ’n anstännig Mäten, Neihersch, un hev ok all mien Dag bi anstännige Lüd deent[5], Neihersch,“ sagte Stine mit schwerem Nachdruck.

„Weet ik. Weet ik allens, lütt Stine.“

„Jo – un mi kann nüms[6] wat nachsegg’n,“ betonte Stine mit wachsendem Groll.

„Blot, dat Se ’n lütt beten wat knurrig un hittlig[7] sünd, Stine,“ bemerkte „Neihersch“, neugierig, wo es heute hinaus sollte.

„Je, dat lat ik gell’n,“ stimmte die Köchin wohlgefällig bei, als hätte „Neihersch“ ihr soeben die größte Schmeichelei gesagt. Dann, nach einer Pause. „Neihersch – weeten’s, wat de Lüd segg’n? De Lüd segg’n: Herr Wien un Fru Genthin! Un kiek, dat paßt mich nich, un darum will ik künnigen.“

„Neihersch“ nahm ein ganzes Bataillon Stecknadeln aus dem Munde, nickte bedächtig und meinte mit dem ihr eigenen Humor: „Süh, also dar kiekt de Voß[8] ut Lock herut! Wo ik mi dat nich gliek dacht hev! Man, dat hett Ji negenkloken[9] Lüd schön gegriesmult[10], Ji alltosam – denn dat’s doch man all dumm Tüg un Snakeri!“

Die lustigen braunen Augen blinzelten der Köchin vergnüglich zu. „Lütt Stine, weeten Se wat? Von so was muß man hochdeutsch snaken, un denn heißt das: Herr Wein un Fräulen Kattein!“

„Wa – at?“ Stine starrte die kleine Person mit offenem Munde an; sollte das nun Scherz oder Ernst sein? Als sie aber sah, daß „Neihersch“ ernsthaft weiter nähte, rieb sie ihre durchfrorenen blauroten Arme und murmelte ratlos und ungewiß: „So herüm? Hm! Weeten’s dat för gewiß, lütt Jette? Na, denn sall’k also nich künnigen?“

Als keine Antwort erfolgte, nur ein schwer zu deutendes Achselzucken, ging Stine in tiefem Bedenken in ihre Küche zurück und sprach zu sich selber: „Dar hev ik de Fru nu Unrech dahn! Na – denn so will ik ok hüt un düssen Dag mien Blankgeschirr mal wedder putzen, dat se dar doch’n Freud’ an hebbn sall!“ Mit diesem redlichen Vorsatz brachte die treue Seele ihr mahnendes Gewissen zum Schweigen.

Als Frau Genthin an diesem Abend der kleinen Näherin ihren Lohn ausbezahlte, ahnte sie nicht, daß Jettchens kluger Sinn wieder einmal die drohende Katastrophe glücklich abgelenkt und daß der europäische Friede im Genthinschen Hause vorläufig keine weitere Störung zu befürchten hatte. (Fortsetzung folgt.)

  1. lernen.
  2. dazu.
  3. aufgegeben = angerichtet.
  4. sagte.
  5. gedient.
  6. niemand.
  7. hitzig.
  8. Fuchs.
  9. neunmal klugen
  10. angeführt.
Empfohlene Zitierweise:
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