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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Ich habe seit Wochen nichts mehr von Ihnen gehört und gesehen. Aber was ist mit Ihnen? Sie sehen ja recht elend aus! Abgearbeitet? Uebertreiben Sie’s nicht! Das rächt sich. He, Edda, Frau Lores Schwager ist da!“

„Ja, ich komme gleich!“ tönte ihre Stimme aus dem Nebenzimmer.

„Na, nehmen Sie Platz! Was giebt es Neues in Ihrer Welt da draußen?“

„Nichts, Herr Doktor. Und wie geht es Ihnen?“ „Danke, recht gut. Ich überarbeite mich nicht eben und suche mich auf leichte Weise zu beschäftigen, wie Sie sehen. Sie gestatten doch, daß ich fortfahre? Ich fertige da gerade ein Modell für ein nach allen Regeln der Hygieine gebautes Krankenhaus an. Sehen Sie, hier – dies ist die chirurgische Abteilung, dies die für innere Krankheiten, dort das kleine Gebäude ist für Geisteskranke, die zur Beobachtung eingeliefert sind. Haha! eigentlich fehlt noch eine Abteilung für die Verrückten, die in der Welt umherlaufen und im allgemeinen doch für vernünftig gehalten werden – oder für solche, die mit ihren Ansichten nicht mehr in die heutige Welt passen, eine Art Asyl für verbrauchtes Menschenvolk!“

„Wollen Sie mir einen Platz darin ausbedingen?“ fragte Hermann, sarkastisch lächelnd.

„Machen Sie keine schlechten Witze!“ Der Alte blickte ihn aus den mächtigen grauen Augen gutmütig an. „Wissen Sie, einen kleinen Vogel hat jeder Mensch, man darf ihn nur nicht zu groß wachsen lassen. Ah, da ist meine Tochter!“

Er nickte dieser freundlich zu, ohne zu bemerken, daß sie in der Eile den Anzug gewechselt hatte. „Ich habe Hunger, Edda, und denke, wir könnten zu Abend essen.“

Edda begrüßte Hermann einfach mit einem Händeschütteln. Dieser blickte sie mit unverhohlenem Erstaunen an. Fast ungläubig folgte er mit den Augen ihrer Gestalt, die sich eilig, aber still und geräuschlos hin und herbewegte, während sie den Theetisch ordnete. Sie hatte ein helles modernes Kleid angelegt mit weit offenen Aermeln und Halsausschnitt, das ihre eigenartige Schönheit zur vollen Geltung kommen ließ.

Sie bemerkte seinen bewundernden Blick, heißes Rot stieg ihr in die Wangen. Sie hatte sich umgezogen, ihm zu lieb, ihr schwarzes Werktagskleid schien ihr so abscheulich häßlich und düster. Und nun schämte sie sich über diese Anwandlung von Eitelkeit, wie sie es innerlich nannte, und war doch zugleich froh, als sie das Wohlgefallen, die angenehme Ueberraschung in seinen Augen las.

In Hermann stieg, wie er sie so beobachtete, der Gedanke auf, wie schlicht und pflichtgetreu dieses Mädchen wochenlang Tag und Nacht an dem Krankenlager Lores gewacht hatte, mit welch einfacher Herzlichkeit sie hier ihres Amtes als Hausfrau waltete, und er ertappte sich plötzlich über der Empfindung, wie gut es sein müsse, sein Leben, sein Glück in so fester treuer Hand zu wissen.

Der Doktor riß ihn aus seinem Sinnen. „Was ist das für eine Geschichte mit dem Lieutenant, der sich erschossen hat?“ fragte der alte Herr, behaglich ein Butterbrot mit kaltem Braten belegend. „Ich las davon in der Zeitung. Wieder so ein Schwächling, der die Flinte ins Korn wirft!“

Hermann schüttelte den Kopf. „Nein, er that seine Pflicht. Ich kannte ihn oberflächlich und verstehe die Beweggründe seiner That.“

Er hatte selbst in der Ehrensache jenes jungen Kameraden mit aburteilen müssen und, wie er glaubte, streng sachlich seine Stimme abgegeben, sich nur als Offizier fühlend, der die Ehre seines Standes zu wahren und zu schützen habe. Es war eine Spielgeschichte gewesen, und die Angelegenheit hatte in ihm die bittere Erinnerung an jene Nacht im Hause seines Bruders wieder neu belebt.

„So, er that seine Pflicht?“ Helm schaute scharf in das ernste Gesicht seines Gastes. „Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr von Weßnitz – seine Pflicht thun, wenn man sich eine Kugel durch sein zwanzigjähriges Hirn schießt? Das will in meinen fünfzigjährigen Kopf nicht hinein.“

„Und doch, Herr Doktor, giebt es Umstände, welche es einem gebieten, so zu handeln. Denken Sie an einen Offizier, der seine eigene Ehre und damit die seines Standes und seiner Familie preisgegeben hat!“

„Und das alles wird durch das Totschießen wiederhergestellt?“

„Teilweise, ja. Und vor allen Dingen wird ein Zweig der menschlichen Gesellschaft aus der Welt geschafft, der mißraten war.“

„Was wird die Mutter eines solchen Selbstmörders empfinden?“ fragte Edda, den klugen Kopf aufrichtend.

Hermanns Züge wurden hart. „Kleine persönliche Gefühle spielen in diesen Fragen keine Rolle.“

„Das nennen Sie kleine persönliche Gefühle, Herr Lieutenant! Ist das Ihr Ernst?“

Fast verwirrte ihn der feste Blick ihrer Augen. „Ja, gewiß! Kann ein Mensch auf irgend eine andere Art als durch freiwilligen Tod eine untilgbare Befleckung seiner Ehre sühnen? In dem vorliegenden Fall hat der Offizier das gesellschaftliche Vertrauen, die Zuverlässigkeit der ehrenhaften Gesinnung verletzt, die man von jedem einzelnen fordern muß, denn auf dieser Grundlage beruht das innere Zusammenleben einer Gemeinschaft von Menschen. Deshalb mußte er gehen.“

„Ich komme von der gleichen Voraussetzung aus zu einem ganz anderen Schluß,“ entgegnete der Doktor. „Die Menschen haben ein Recht, ehrlose Handlungen vor dem Gesetz gerichtet zu sehen, und niemand ist befugt, sich dieser Forderung durch den selbstgewählten Tod zu entziehen.“

„Es ist schließlich nichts als Feigheit vor den Folgen des eigenen Handelns,“ meinte Edda und sah Hermann ruhig an.

„Nein, das ist es nicht!“ Seine Stirn rötete sich leicht. Aber trotz seines energischen Widerspruchs fühlte er sich plötzlich dem klaren Blick dieser Augen gegenüber unsicher. Das Recht seiner Ansicht schien ihm mit einmal nicht mehr so zweifellos. Er schwieg.

In die entstandene Stille hinein ertönte das Klingeln der Hausglocke. Jemand fragte nach dem Doktor.

„Es thut mir leid, gerade heute abend zu einem Kranken zu müssen,“ sagte Helm, als er von draußen zurückkehrte, zu Hermann, während er Hut und Stock nahm. „Vielleicht sind Sie noch da, wenn ich wiederkomme. Doch kann es spät werden.“

„Wir wollen ins Nebenzimmer gehen,“ sagte Edda, als ihr Vater sich entfernt hatte. Sie ergriff die auf dem Eßtisch brennende Lampe und schritt Hermann voraus.

Es war augenscheinlich das Arbeitszimmer des alten Helm, das sie betraten, ein einfaches, fast dürftiges Gemach. An den Wänden große Regale, mit Büchern und allerhand Gläsern angefüllt, in denen seltsame Präparate ruhten. In einer Ecke das Gerippe eines Menschen, auf einem Tisch eine Anzabl von Totenköpfen, augenscheinlich Abnormitäten.

Hermann beschlich ein seltsames Gefühl. Allein mit diesem Mädchen in der fremdartigen fast unheimlichen Umgebung!

„Bitte, nehmen Sie Platz! – Haben Sie etwas von Ihrer Schwägerin gehört?“

„Nein, nichts! Sie hat mir noch nicht einmal geschrieben seit jener unglücklichen Geschichte, mein Bruder auch nicht, und vom Vater erhalte ich nur sehr selten eine kurze Nachricht. Wer kümmert sich noch um mich? Ich bin überflüssig.“

Er sagte das scharf, finster in das Licht der Lampe blickend.

„Sie sind verbittert, Herr von Weßnitz! Weshalb? Sie wissen, wie hoch alle Ihre näheren Bekonnten Sie stellen!“

Er zuckte die Achseln. „Ja, hoch stellen, hoch schätzen! Was ist das alles? Man friert dabei. Ich brauche mehr als das, brauche zuweilen einen teilnehmenden Menschen, ein gutes herzliches Wort!“

Sie sah ihn aufmerksam an, während eine feine Röte ihre Wangen überzog. Und dann, einer unwillkürlichen Regung folgend, streckte sie ihm die Hand hin.

„Wenn Sie Teilnahme, Verständnis suchen, Herr von Weßnitz – hier bei meinem Vater und mir werden Sie das finden. Sie leben zu einsam, ich kann das nachfühlen, aber Sie dürfen nicht verbittert werden, gerade Sie nicht!“

Welch eigentümlicher Ton in Ihrer Stimme zitterte! Hermann beugte lauschend das Ohr. Alles in seinem Innern ward weich, alles, was er in den letzten Jahren still, ohne Aussprache niedergerungen, quoll in ihm empor bei der Berührung dieser schlanken warmen Mädchenhand.

„O, wenn meine Mutter noch lebte!“ preßte er hervor.

Es war eine Weile still, dann sagte Edda: „Es muß etwas Wunderbares um den Besitz einer Mutter sein. Ich habe nie den Segen einer Mutterhand gefühlt, selbst nicht in meinen ersten Kindertagen. Erzählen Sie mir, bitte, von Ihrer Mutter!“

(Fortsetzung folgt.)


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