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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Und dann siegte die hausfrauliche Fürsorge über jedes andere Gefühl. „Nun setze Dich nur erst und ruhe aus, Du wirst hungrig und müde sein.“

Sie eilte an die Thür und gab der alten Köchin draußen einen Befehl. Als sie zurückkam, trat sie dicht an ihren Gast heran, reichte ihm die schmale Hand, an der der goldene Trauring glänzte, und sagte herzlich. „Willkommen, Gerhard! Dich hat mir der liebe Gott geschickt. Mein Mann ist verreist, und mir bangte vor der fremden Einquartierung.“

„Fremde Einquartierung?“ wiederholte er enttäuscht. „Singst auch Du dasselbe Lied, Hedwig?“

„Nein, Gerhard! Gott weiß, wie ich mich über die Ankunft meiner Landsleute gefreut habe! Aber ich bin noch nicht ehrwürdig genug, Euch jungen Leuten Respekt einzuflößen, und nicht strenge genug, Euch in Rand und Band zu halten,“ erwiderte sie heiter. „Da schneit mir nun urplötzlich ein lieber halb vergessener Vetter . . .“

„Aber Hedel! Halb vergessen!“

Sie lächelte und drehte ihren Ring um den Finger. „Ja, ja, Vetter Gerhard! Solch ein schmaler goldener Reif läßt eine Frau allerlei vergessen, was außer dem Bereich von Mann, Haus und Kindern liegt – und so ist’s auch gut!“ sagte sie, immer mit derselben heiteren Ruhe und Sicherheit.

Er seufzte und betrachtete sie aufmerksam. Diese Frau, die er vor Jahren angebetet hatte, als er ein blutjunger Student war und sie ihre ersten Balltriumphe feierte, kam ihm jetzt nach so langer Zeit fast noch schöner vor denn damals, aber doch zugleich fremder, als weit über ihm stehend. Seine Blicke und seine Gedanken blieben unwillkürlich an dem schmalen Goldreif an ihrer Hand haften.

In diesem Augenblick ging die Thür auf, und drohend wie ein ausbrechendes Ungewitter trat die alte Köchin herein und brachte die befohlene Stärkung – Thee, Wein und kalte Küche. Jedes Stück ward mit einem finsteren Blick auf den Gast und mit jenem unheimlichen Nachdruck, der der Hausfrau die höchste Unzufriedenheit des dienstbaren Geistes ankündigt, auf die weiße Serviette niedergesetzt, die Frau Hedwig ausgebreitet hatte. Mit unverhohlenem Vergnügen betrachtete indes der Preuße die feindselige Miene dieses guten alten Küchendragoners; aber mit Stine war nicht zu spaßen – sie drehte ihm seelenruhig ihren breiten Rücken zu und ließ ihn ihren schönen rot- und grüngestreiften Rock und die verschlissenen Nähte ihrer schwarzen Sammetjacke bewundern, während sie kurz angebunden die Hausfrau fragte: „Schüllt de annern“ – mit einer bezeichnenden Kopf- und Handbewegung nach der Thür – „ok wat hebbn, Madam’?“

Was blieb Frau Genthin anderes übrig, als ihren Vetter sich selbst und seinem Hunger zu überlassen, geduldig dem alten Haustyrannen zu folgen, um auch draußen und für „de annern“ ihre hausfraulichen Pflichten zu erfüllen?

Als dies geschehen war, suchte sie noch rasch ihre Nichte auf. „Denk’ Dir, Marie,“ rief sie in der Freude ihres Herzens dem Katteeker schon von weitem zu, „der Lieutenant, vor dem mir so bangte, ist gar kein Fremder, sondern ein lieber alter Jugendfreund, mein Vetter Gerhard Wien aus Schlesien. Nun bin ich ruhig! Er wird wohl mehrere Tage hierbleiben; vielleicht kommt inzwischen mein Mann auch wieder, und dann sind wir aus aller Not!“

Doch Marie that, als ginge dieser tröstliche Bericht sie nicht im mindesten an. Sie war just damit beschäftigt, ihren zwei- und vierbeinigen Lieblingen einen anderen Aufenthaltsort anzuweisen, und rieb mit großem Eifer an dem Glashafen herum, in dem ihre drei Laubfrösche saßen.

„Sieh’ mal, Tante,“ sagte sie ganz sachlich und unbefangen und zeigte auf zwei von den Wetterpropheten, die faul und behäbig oben auf der Leiter hockten, indes der dritte sich unten im Wasser verlustierte, „siehst Du, es ist doch eigentlich sehr vorteilhaft, wenn man drei Frösche hat. Da kann man sich hübsch nach der Majorität richten, wie Onkel Johannes immer sagt.“

Frau Genthin nahm ihr ruhig das Glas aus der Hand. „Jetzt laß einmal Deine Laubfrösche und denk’ an etwas anderes! Was meinst Du? Die drei gemeinen Soldaten können im Erdgeschoß untergebracht werden. Stine und das Kindermädchen nehmen wir herauf – das ist mir ohnehin lieber. Der Sergeant kommt in Dein Stübchen. Gerhard ins Balkonzimmer.“

„Thu’, was Dir gut dünkt, Tante,“ erwiderte das Backfischchen kühl. „Du weißt, diese Preußen sind meine Feinde, und für Feinde kann ich mich nun einmal grundsätzlich nicht interessieren.“

„Bitte, verschone mich mit Deinen Grillen und Grundsätzen!“ rief die geplagte Hausfrau ungeduldig. „Dazu ist jetzt wirklich keine Zeit! Hilf mir lieber bedenken, womit wir die Leute heute abend satt machen sollen. Die armen Menschen müssen doch bald ’was Warmes haben! Christine ist so eigensinnig und Doris so ungeschickt – Du bist meine einzige Hilfe, Kind!“

Das wirkte.

„Na, das ist denn eine andere Sache!“ sprach das Katteeker würdevoll, überließ Kanarienvogel, Buchfink und Laubfrösche, den Geist des seligen Kardinals und die ausgestopften Vogelbälge ihrem Schicksal und folgte der Tante in die Küche, wo es an diesem ereignisreichen Tage alle Hände voll zu thun gab.

Willig nahm sie dort einen Teil der häuslichen Sorgen auf ihre Schultern, und nach hartem Kampf ergab sich auch Christine in ihr Schicksal, „för dat oll Preußenvulk, de uns doch man schier arm freten“, zu kochen. So konnte Frau Hedwig denn ruhigen Herzens zu ihrem Gast zurückkehren. Sie schickte noch das Kindermädchen zur Aushilfe in die Küche hinunter und nahm die drei Kinder mit sich ins Wohnzimmer.

Als sie eintrat, mit ihrem Jüngsten auf dem Arm, während die beiden kleinen Mädchen ängstlich an ihren Rockfalten hingen, sprang der Vetter auf, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief. „Herrgott, wie ist mir denn! Ich hatte die Gedanken so voll von dem Wiedersehen mit Dir, daß ich bis jetzt noch gar nicht daran dachte! Das ist ja das Haus, das epheuumrankte, wo wir heute morgen so freundlich begrüßt worden sind!“

Er hob das kleinere Mädchen auf den Arm, rieb ihre weiche Kinderhand an seinem bärtigen Gesicht und sagte fast gerührt: „Das sind also Deine Händchen, kleine Maus, die den armen müden Soldaten die hübschen Sträußchen hinuntergeworfen haben? Und Du hast sie gebunden, Hedel, und hast die schwarzeweiße Fahne hinausgehängt, Du altes treues Preußenherz, Du! Das hätt’ ich mir denken können! Freilich, ich hab’ ja kaum gewußt, wie das ungastliche Nest heißt – es waren ihrer schon gar zu viele, die uns ebenso empfingen, in den letzten Tagen! Und die Wahrheit zu sagen, Hedel, ich hatte auch fast vergessen, wohin Dich vor so und soviel Jahren der Herr Baumeister entführte. Aber wo ist denn . . .?“ Er blickte sich wie suchend im Zimmer um.

Doch die Hausfrau schien seine Frage überhört zu haben, und die Kinder nahmen ihn bald so völlig in Beschlag, daß er darüber alles andere vergaß. Für ein Weilchen wenigstens. Er war ein großer Kinderfreund, und diese jugendlichen Schleswig-Holsteinerinnen hatten noch durchaus keine Antipathien gegen den preußischen Lieutenant. Selbst der „Kronprinz“ duldete gnädig, daß der neue Onkel ihn auf den Arm nahm und ihn tanzen ließ – „noch viel höher wie Papa!“ riefen die Schwestern in aufrichtiger Bewunderung. Und Fränzchen benahm sich wunderbar liebenswürdig und widmete dem Gast keinen einzigen Ton seiner so gefürchteten Ouverture.

Während so für Frau Genthin und ihre junge Gesellschaft die Zeit aufs angenehmste verstrich, war Marie Kattein fleißig, sehr fleißig gewesen und hatte weit mehr gethan, als die Tante ihr aufgetragen.

Anfangs half sie der alten Köchin pflichtschuldigst beim Zubereiten der Beefsteaks, wobei Stine ihrem gerechten Grimm nun endlich Luft machen konnte. Mit aller Gewalt ihrer kräftigen roten Arme schlug sie auf dem unschuldigen Ochsenfleisch herum, und zwischendurch kam es ruckweise in dumpfem Groll heraus: „Dat oll Rackertüg[1]! – Möt ik nu um ehrentwillen ut mien Stuw herut, wo ik söben[2] Jahr in slapen hev! Mien Stuw, mien schöne Stuw! – Aewers töwt[3] man – ik hev Ju Arwten[4] in’t Bedd steeken, dar schüllt Ji wul söt[5] up slapen!“ lachte Stine ingrimmig auf. Nach einer Weile fuhr sie leiser und in geheimnisvollem Flüstertone fort: „Frölen, weeten’s, wat Duris seggt? Duris seggt, wenn Frölen uns vielleich een vun ehr Poggen[6] en beten gewen wull, denn künnt wie dat oll Diert Naetschelln ünner de Föt kliestern[7], un dat denn de ganze Nach dorin herümmer spellunken laten. Dar schüllt de Preußens sik wul aewer grugen[8].“

Katteeker horchte hoch auf. Ein prächtiger Gedanke! Aber nein! Es ging nicht, es ging wirklich nicht! Sie konnte sich doch unmöglich mit den beiden Dienstmädchen in eine Verschwörung einlassen, die Tante würde ja außer sich sein, wenn sie’s erführe.

  1. Rackerzeug.
  2. sieben.
  3. wartet.
  4. Erbsen.
  5. süß.
  6. Frösche.
  7. dem alten Tier Nußschalen unter die Füße kleben.
  8. grauen, fürchten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_546.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2022)