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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Von den beigefügten Bildern giebt insbesondere das untenstehende den vollen geistigen Ausdruck der Frau Wagner wieder. Lenbach soll es bei seinem Porträt von ihr benutzt haben, der Oeffentlichkeit ist es bislang nicht bekannt geworden. Ebenso ist das kleine Gruppenbild auf Seite 525 eine Seltenheit, mit welcher die „Gartenlaube“ ihren Lesern eine Freude zu bereiten hofft. Es stammt aus dem letzten Lebensjahr des Meisters und stellt diesen im traulichen Verein mit der Gattin und zwei nahen Freunden des Hauses dar. Der frühverstorbene Heinrich von Stein (neben Frau Cosima) war ein großer Wagnerenthusiast und auch litterarisch für des Meisters Sache thätig. Der russische Maler Paul von Jannkowsky, der die Dekorationsentwürfe zu Parsifal gemalt hat, lebt zu Petersburg in hoher Stellung. Jannkowsky ist künstlerisch mit Böcklin verwandt, und als der letztere abgelehnt hatte, für den Parsifal thätig zu sein, wandte sich Wagner an Jannkowsky. Diese Dekorationsentwürfe findet der Leser S. 521 auf dem größeren Gruppenbild, dem bekannten Gemälde von W. Beckmann, wo man Liszt die eben fertig vorliegende Parsifalpartitur besprechen sieht, während Wagner, Frau Cosima und Hans von Wolzogen den Worten des Greises lauschen.

Jetzt ist sie, die damals Zuhörerin und Beraterin war, zur Leiterin geworden.

Vom Morgen bis zum Abend gehen die Proben, unermüdlich ist Frau Wagner am Platz. Ich möchte hier einige Tage aus den Probezetteln abschreiben dürfen, um die Unsumme von vorbereitender Arbeit begreiflich machen zu können. Bei dieser ist es besonders die eiserne Kraft des Musikdirektors Kniese, des Chordirigenten der Festspiele und des Leiters der Bayreuther Bühnenschule, die sich in staunenswerter Weise entfaltet.

Um die Mittagszeit öffnen sich die Thüren des Festspielhauses. Eine bunte Gesellschaft strömt heraus, Hunderte von Damen und Herren, die ersteren meist jung, hübsch, elegant, die letzteren meist mit jenen charakteristischen glattrasierten Gesichtern der Bühnenangehörigen, viele im Havelock und Schlapphut, alle nach ihrem Beruf erkennbar, wenn auch die früher übliche Künstlerlocke gefallen ist.

Cosima Wagner.

Der weiche Juniwind weht kühlend um die erhitzten Stirnen. Von fern blauen die Tannenberge des Fichtelgebirgs herüber. Die fröhlichen Scharen ziehen durch die Eschenallee hinab zur Stadt, in die kleine Stadt, zwischen deren Häusergedränge sich die Zahl der alten Prachtbauten wunderlich ausnimmt, die aber einen großen Vorzug hat: eine herrliche, gesunde, kräftigende Luft.

Wohl alle Bühnen Deutschlands haben Mitglieder hierher gesandt und die Mehrzahl der Bayreuther „Choristen“ sind Solokräfte größerer Stadttheater: strebsame junge Künstler, die hier auf diese Weise viel lernen und im Winter nachzuahmen suchen, was sie am Quell der wahren Auffassung erspähten und die daneben noch eine für ihre Verhältnisse recht ansehnliche Gage bekommen.

Das Budget ist ungeheuer. Wo von Zahlen die Rede ist, setzt mein Verstand im allgemeinen seine Thätigkeit aus, und wenn ich etwas ausrechnen soll, so erfüllt eine immer neue Dankbarkeit gegen den lieben Gott mein Herz, der mir zehn Finger gab. Deshalb will ich auch meinen Lesern selber überlassen, sich eine Vorstellung von Einnahme und Ausgabe in Bayreuth zu bilden, und nur erzählen, daß mehr als vierhundert Mitwirkende Gagen bekommen, die bei vierhundert Mark beginnen und, wie es heißt, bei zehntausend enden, je nach der künstlerischen Stellung der Empfänger. Kein Theater in der Welt kann ausgeben, was in Bayreuth für Dekorationen und Kostüme aufgewendet wird. Und so mag es schon sein, daß selbst bei zwanzig ausverkauften Festspielhäusern – in das Haus gehen 1640 Personen und der Platz kostet zwanzig Mark – ein finanzieller Ueberschuß nicht oder doch nur in geringem Grad erzielt wird.

Dies ist und soll auch völlig Nebensache bleiben. Es gilt den idealen Zweck, die Gedanken des Meisters lebendig und treu zum Ausdruck zu bringen, vorbildlich für alle anderen Bühnen. Der Zug, sich von Bayreuth unabhängig zu machen, nicht mehr in allen Wagnerfragen die künstlerische Losung von hier zu empfangen, macht sich neuerdings geltend. Fast alle großen deutschen Bühnen veranstalten „Musteraufführrungen“, voran München, welches sogar in diesem Jahre den „Lohengrin“ vorweg nahm und ihm in Ausstattung und Kostüm die Kulturprägung des zehnten Jahrhunderts gab, wie man es in Bayreuth vorher plante und nun auch ausführt. Hitzige Bayreuther sind ungehalten darüber. Ich möchte lieber „Bravo!“ dazu sagen. Denn bringt München Gleichwertiges mit Bayreuth, füllen sich an beiden Stätten die Häuser mit treuer Gemeinde, so erwächst dem Werk des Meisters nur Gewinn. Und neigt das Urteil sich zu gunsten der einen oder andern Stadt, so wird noch heißeres Bemühen die Folge sein. Und dann abermals: Gewinn für des Meisters deutschestes Werk! Ich schreibe „vor den Festen“ und kann nur andeuten, daß Außerordentliches wohl zu erwarten steht, auch liegt es ja in den Verhältnissen, daß die orchestrale Leistung, die Klangschönheit der Chöre und die scenische Einrichtnug nirgends ähnlich zu erreichen sind.

Das „deutscheste Werk“ sagte ich und brauche dies wohl nicht zu begründen; außer im Schluß der „Meistersinger“ gab Wagner nirgend seinen patriotischen Empfindungen so ehernen Ausdruck wie gerade im „Lohengrin“. Und wenn man sich das vergegenwärtigt, so kann man sich einer eigentümlichen Beobachtung nicht erwehren: die Liste der Mitwirkenden weist dieses Jahr eine ganze Reihe ausländischer Künstler auf.

Gewiß ist, daß das verfügbare „künstlerische Material“, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich in einem Uebergangsstadium befindet. Die meisten von den großen Sängern und Sängerinnen, welche in dem ersten Jahrzehnt der Festspiele für des Meisters Werke ihr Können einsetzten, sind von der Glanzhöhe ihrer Kunst schon herniedergestiegen. Und viele von ihnen haben selbst in ihren besten Leistungen nach des Meisters eigener Aussage immer nur die eine oder andere Seite der zu verkörpernden Gestalten erfaßt. Die neue Kunst forderte ein neues Künstlergeschlecht. Es bedurfte naturgemäß eines langen Zeitraumes, dieses heranwachsen zu lassen.

Man hat längst erkannt, daß die schöne Stimme, welche vielleicht zuvor am Schemel des Handwerkers oder auf dem Kutscherbock sang, keine ausreichende Mitgift ist, um künstlerische Aufgaben zu bewältigen, sondern daß auch die Grundlage einer allgemeinen Bildung nötig sei zu großen Leistungen in der darstellenden Kunst. Durch die höchsten und umfassendsten Anforderungen, die Wagner an die Operntragöden stellte, hob er zugleich den ganzen Stand.

Und wenn nun auch in dem letzten Jahrzehnt Einzelpersönlichkeiten wie Rosa Sucher, Fritz Plank, Pauline Mailhac in ihrer vollkommenen Künstlerschaft das Wagnersche Ideal erreichten, so blieb bei vielen anderen desto mehr zu wünschen übrig, und Frau Cosima Wagner that klug und wohl daran, mit neuen Kräften neue Versuche zu machen.

Aber hierfür so viele aus dem Auslande zu berufen, halte ich für eine Gefahr, die hell beleuchtet werden muß, wenn auch diesmal allem Anschein nach der Versuch günstig ausfällt.

Was ist Volksseele? Die Summe aller hervorstechenden Eigenschaften von so und soviel Millionen Individuen. Und da in einem künstlerisch beanlagten Individuum diese Durchschnittseigenschaften in verstärktem und verschärftem Maß auftreten, könnte man vielleicht so sagen: der künstlerische Mensch ist ein Beispiel, aus dessen Art man auf die Art der Volksseele folgern kann.

Wenn nun Bayreuth die heilige Stätte deutscher Kunst bleiben soll, als welche Wagner sie gedacht hat, so wäre es ein Fehler, dem Ausländertum dauernd das Recht der Mitwirkung einzuräumen. Und nicht nur ein künstlerischer, sondern ganz einfach auch ein ökonomischer Fehler. Die Engländer, Amerikaner und Franzosen kommen hierher, um deutsche Kunst von deutschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_524.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2023)