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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

gefolgt waren, hatte er alle Stätten der Verwüstung besucht – nur diese eine hatte er gemieden. Jetzt zog es ihn zu ihr.

Als er emporstieg zwischen den wirr liegenden Trümmern und gebrochenen Bäumen, führte ihn kein Pfad; der Reitweg war verschüttet und kein neuer Pfad gebahnt, denn die verrufene Stätte war gemieden von allen Leuten. Ein beklemmendes Gefühl erfaßte ihn beim Anblick des offenen Thors. Die Fallbrücke überspannte den Graben, doch ihre Bohlen waren schon brüchig und von gelblichen Schwämmen bedeckt. Im weiten öden Hof waren nur an der Ringmauer noch spärliche Reste der Ställe zu erkennen, während der steinerne Unterstock des Hauses unter einem wüsten Haufen von Asche und verkohlten Balkenstücken begraben lag. Ueberall wucherte ein großblätteriges Unkraut mit langgestielten Blüten, und an der Mauer rankte sich schon der die Steine durchbrechende Epheu empor. Einzelne Bäume des Hofes standen noch, die Stämme behangen mit den gebleichten Wildschädeln und morschen Geweihen; doch die Aeste waren kahl, nur wenige Büschel dürren Laubes trugen sie noch – die Hitze des Feuers hatte ihr Leben getötet. Aber an manchen Stellen des grauen Bodens, wo das Unkraut spärlicher stand, erblickte Eberwein kleine lichtgrüne Blättchen: die jungen Sprößlinge des Buchensamens, den die Herbststürme ausgestreut. Hundert Jahre und auf der Stätte, welche Wazemanns Haus getragen, grünte ein hochstämmiger Wald mit dichten Kronen!

Erfüllt von wirbelnden Gedanken und wechselnden Empfindungen schritt Eberwein mit zögerndem Fuß um die Ränder des Aschenhügels, der das Haus gewesen. Unter seinen Tritten stäubte der Schutt, und als er zu der Stelle kam, an welcher sich unter der grauen Decke noch die Stufen der Freitreppe erraten ließen, schürfte sein Fuß aus der Asche einen kleinen gebogenen Gegenstand hervor. War es der Beingriff eines Schildes oder der Henkel eines hölzernen Kruges? Eberwein bückte sich, streckte die Hand – und erschrak, daß ihm alle Farbe aus dem Antlitz wich. Auf das Rätsel starrend, das er aus dem Staub gehoben, griff er mit der anderen Hand an seine Brust und tastete zitternd, ob die ihm heilige Reliquie seiner Kindheit noch an dem Schnürlein hinge, ob er sie nicht verloren hätte, jetzt, bei diesem letzten Schritt. Und als er sie fühlte, riß und zerrte er, bis das Bein sich löste. Nun hielt er das eine Stück in der rechten, das andere in der linken Hand, und seine verstörten Blicke glitten ratlos hin und wider. Die beiden Stücke glichen sich wie die Hälften eines entzweigesprungenen Reifes – und dennoch nicht! Die eine Hälfte, die er an der Brust getragen, war festes Bein, nur braun vor Alter, mit Runenzeichen auf der Innenseite – die andere war morsch und grau, zernagt vom Moder, daß auf der Innenseite kaum die Spur eines Zeichens sich erkennen ließ. Mit bebenden Händen fügte er Stück an Stück. Sie paßten zueinander wie die Teile eines Ganzen und dennoch nicht! Die eine Hälfte zeigte am festen Bein den scharf gesplitterten Bruch – die andere war an den Stellen des Bruches rundgefressen von der Fäulnis. Schwer atmend schüttelte Eberwein den Kopf und wollte schon das graue Rätsel zurück in die Asche werfen. Doch wieder hingen seine Blicke an dem morschen Bein, wieder fügte er die beiden Stücke aneinander! Waren sie die Hälften eines Ganzen … wie wurden sie getrennt? Wie kam die eine auf die Romstraße im Garmischgau, die andere in hundertstündiger Ferne hierher unter die Asche von Wazemanns Haus? Und als sie noch ein Ganzes waren ... wem gehörte der beinerne Reif? Wer trug ihn am warmen lebenden Arm?

Ein heißer Schauer rann dem Fragenden durch Herz und Glieder. Er deckte mit dem Arm die Augen und taumelte rückwärts, als wollte er den in das Dunkel dieses Rätsels spähenden Blick ersticken und allem entrinnen, was seine Seele bestürmte. „Soll der alte Kampf in mir von neuem beginnen, die alte Qual, die alte ziellose Sehnsucht … nur weil ein unbegreiflicher Zufall meine Sinne schreckte?“ Er ließ den Arm wieder sinken und blickte hinaus über das weite Thal. „Bin ich in diesem Augenblick denn besser als jene, welche ‚Wunder! Wunder!‘ schreien, wenn ein Bär den Honig leckt, der Sturm die Menschen von der Erde hebt und ein Stein seine unberechenbaren Sprünge macht?“ Er lächelte, und eine Blutwelle stieg ihm warm aus dem Herzen, als er im leuchtenden Schein des Abends auf allen Pfaden der Schönau, gleich winzigen Figürchen, die Menschen eilen sah, die es nach vollbrachtem Tagewerk zur Klause trieb, zu ihrem „guten Herrn“. „Ich sehe sie – und suche noch nach Haus und Heimat, nach meinen Brüdern und Schwestern! Hab’ ich sie denn nicht längst gefunden, Hunderte an der Zahl? Hängt nicht an ihnen meine ganze Liebe und ihre Liebe an mir? Und ich stehe noch …!“

Er eilte der Mauer zu, und aus beiden Händen schleuderte er die Hälften des Ringes hinunter in die Tiefe. Er sah sie fallen, immer schneller und schneller, jetzt erreichten sie den blanken Spiegel des Wassers, zwei weiße Garben sprühten auf, zwei Wellenkreise schwammen ineinander zu einem einzigen sacht zerfließenden Ring – und wieder glatt und schimmernd lag der See mit seinen grünen Fluten.



Blätter und Blüten.



Vom „Deutschen Journalisten- und Schriftstellertag“ zu Hamburg. (Zu dem Bilde S. 513.) Der dritte Deutsche Journalisten- und Schriftstellertag, der vom 29. Juni bis 3. Juli in Hamburg stattfand, gestaltete sich für diese Stadt zu einem besonderen Freuden- und Ehrenfest, an dem die ganze Bürgerschaft teilnahm und das die Aufmerksamkeit aller verdient, die vor zwei Jahren das von der Cholera so schwer heimgesuchte Hamburg bemitleidet haben. Welches Kleinod das Deutsche Reich in der Freien und Hansastadt Hamburg besitzt, das hat gewiß auch durch die furchtbare Choleraepidemie und ihre traurigen Folgen für Hamburgs Handel und Wohlstand nicht im Bewußtsein der Nation verdunkelt werden können. Aber für viele hatte sich doch um die Erinnerung an ihre Pracht und Herrlichkeit ein schwarzer Flor gelegt. Es war hohe Zeit, einmal vor den Äugen der weitesten Öffentlichkeit den Ruf unserer ersten Handelsstadt von diesem Schatten zu befreien. Hat doch der echt hanseatische Gemeingeist es inzwischen mit nicht genug zu bewundernder Thatkraft verstanden, alle Spuren jener Schreckensherrschaft zu beseitigen und sich mit einer mächtigen Schutzwehr gegen erneute Ueberfälle des tückischen Feindes zu umgeben. Da war es ein glückliches Zusammentreffen, daß sich dies Bedürfnis, das Geleistete auch von fremden Augen prüfen zu lassen, mit dem Wunsche der deutschen Journalisten und Schriftsteller begegnete, ihre Jahresversammlung in diesem Sommer in Hamburg abzuhalten.

So wurden dieselben Mahner und Warner, die vor zwei Jahren sich genötigt sahen, selbst auf die Gefahr einer zeitweiligen Schädigung von Hamburgs Wohlstand hin die Presse zum Organ einer ernsten Untersuchung von Hamburgs Gesundheitsverhältnissen zu machen, zu Zeugen dafür, was hier inzwischen für die sanitäre Hebung geschehen ist. Und das Ergebnis dieser Prüfung war ungeteilte Anerkennung, ja Bewunderung. Gleich am ersten Tag, in dessen geschäftlichem Teil die Begründung eines allgemeinen Verbands der deutschen journalistischen und schriftstellerischen Vereinigungen beschlossen wurde, standen nachmittags an der Landungsbrücke St. Pauli festlich geschmückte Dampfer für eine Elbfahrt bereit, auf welcher die großartigen Häfen und Quaianlagen besichtigt und von denen aus eine Inspektion des großen in Nr. 51 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ geschilderten Sandfiltrationswerks unter Führung seines Urhebers, des Oberingenieurs F. A. Meyer, vorgenommen wurde. Am nächsten Tage folgten in kleineren Gruppen Einfahrten in das unterirdische Sielsystem, die Abflußkanäle der Riesenstadt, Besuche des neuen Krankenhauses, des aus einem Krankenunterkunftshause entstandenen Logierhauses „Konkordia“ etc., daneben natürlich auch solcher Sehenswürdigkeiten, die Hamburgs unerschütterliche Größe als Hafen- und Handelsstadt veranschaulichen.

Wie aber schon am ersten Tag an die Besichtigungsfahrt auf der Elbe sich eine Lustfahrt nach Blankenese gereiht hatte, so bot auch der zweite Tag den Teilnehmern zum Abschluß eine festliche Wasserfahrt, welche der Schönheit Hamburgs gewidmet war. Nicht nur, wer unter den Gästen zum erstenmal in Hamburg weilte und auf diese Weise mit der malerischen Stimmungswelt des Alsterbassins und der Außenalster bekannt wurde – alle, die in einer der buntbewimpelten, lampiongeschmückten Schuten, von schnellem Dampfer gezogen, umtönt von Jubelzuruf und fröhlicher Marschmusik, unter der Lombardsbrücke hinweg nach den Anlagen von Uhlenhorst und den Villengärten von Harvestehude entlang fuhren, um schließlich mit den anderen fröhlichen Festteilnehmern an der Alsterlust zu landen, erhielten dabei Eindrücke von geradezu hinreißender und ganz einziger Wirkung. Und als dann das große Feuerwerk emporprasselte, in immer neuer Farbenabwechslung riesige Funkenregen gen Himmel sprühend, da erschien dies wie ein sinnbildlicher Vorgang dafür, daß unser Hamburg sein Trauergewand nun endgültig ablegen und das wieder stolz erhobene Haupt mit dem Strahlendiadem wohlverdienten Ruhms schmücken darf.

Auf mehreren Ausflügen wurde den Kongreßteilnehmern auch noch Gelegenheit, sich das Bild vonu Hamburgs Größe und Ruhm durch geschichtlichen Rück- und Ausblick zu ergänzen. Die Blüte Hamburgs wurzelt in der Geschichte der Hansa, ein kunstverklärtes Abbild von deren Blütezeit bietet Lübeck. Auch hier hat man die Männer von der Feder gastlich und festlich aufgenommen. Eine Hüldigungsfahrt nach Friedrichsruh führte sie vorher zu dem Staatsmann, dessen kraftvolle Politik an dem Aufschwung des heutigen Hamburg den stärksten Anteil hat. Und am Bord des Riesenschnelldampfers „Columbia“, den die Hamburg-Amerikanische Paketfahrtgesellschaft zur Fahrt nach Helgoland zur Verfügung stellte, ging ihnen die ganze Großartigkeit des heutigen Stands der deutschen Seeschiffahrt auf.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_515.jpg&oldid=- (Version vom 20.5.2023)