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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

die Geleitschaft Eberweins war auf der Rodung erschienen. Erschrocken blickte Bruder Sigenot auf die Schar der Kommenden. „Herr! Unter all’ den Leuten soll ich weiterleben?“

„Nein, Sigenot!“ Eberwein legte die Hand auf die Schulter des Bruders und sah ihm mit herzlichem Blick in die Augen. „Ich will Dich mir erhalten und deshalb lege ich eine heilige Pflicht auf Deine Seele und gebe Dir ernste Arbeit. Was ich meine, sollst Du morgen hören. Für heute nimm Deinen Stab, ziehe zur Ramsau und lade die Männer auf den zweiten Tag von heute zur Martinsklause. Sie sollen zugegen sein, wenn ich den Grundstein meines Klosters lege. Morgen zu Mittag kehre heim und erwarte mich im Hause Deiner Schwester!“

Sigenot wehrte mit der Hand. „Herr, laß meinen Schatten nicht fallen auf ihren hellen Weg’!“

Einer der Mönche kam, um die Ankunft des Zuges zu melden und die Befehle des Propstes zu hören.

„Ich komme!“ sagte Eberwein. Dann drückte er den eigenen Stab in Sigenots Hand. „Nimm den Stecken und wandere! Ich erwarte Dich morgen!“ Er wandte sich ab und folgte dem Mönche. Bruder Sigenot stand noch eine Weile, die Augen mit verlorenem Blick auf den Stab geheftet. Als er einen kleinen wohlbeleibten Bruder mit anderen Mönchen der Klause sich nähern sah, kehrte er sich hastig ab und begann die Wanderung.

Der Abend kam, und treibendes Leben herrschte auf der weiten Rodung. Während Zelte und Hütten aufgeschlagen wurden und in der sinkenden Nacht die Feuer zu lodern begannen, saß Eberwein beim Licht einer Kerze in seiner Zelle und schrieb. Lange währte die stille Arbeit. Er siegelte die Rolle, verwahrte sie in hölzerner Kapsel und legte sie mit einem schweren Säcklein in eine Ledertasche. Dann begab er sich zur Ruhe.

Vor dem Grau des Morgens erhob er sich wieder. Während alles noch schlummerte, schwer ermüdet von der weiten Fahrt, schritt er dem Thal der Ache zu, die Ledertasche an seinem Gürtel. Es drängte ihn, eine Höhe zu ersteigen und von freier Warte sein Land zu überblicken, wie an jenem ersten Morgen, an welchem der Kohlmann ihn zum Untersberg geführt. Auf schmalem Brücklein überschritt er die Ache und überließ sich einem Almensteig, der durch den Bergwald emporführte zu den Gehängen des Göhl. Zwei Stunden wanderte er aufwärts; endlich gingen die Bäume zu Ende, und mit schimmerndem Duft erwachte der schöne Morgen.

Auf steiler Zinne ruhte Eberwein und harrte, bis im Thal die Schatten wichen. Noch ehe sein Blick die Hage und Häuser unterscheiden konnte, sah er schon die weißgraen Schnuttfelder, welche mit langgestreckten Fingern über die Halden der Schönau griffen. Doch bald erkannte er auch den mattgrünen Schimmer, von welchem die gerodeten Flächen wie von einem dünnen Schleier überzogen waren. In stillen Bildern zog das Vergangene an Eberweins Augen vorüber, all sein eigenes Hoffen und Leiden, alles Glück und Weh der hundert Menschen, welche dort unten mit dem Morgen jetzt erwachten oder ewig schlummerten unter Felsen und Erde. Wie viel an gutem und gesundem Leben lag unter den Trümmern des gebrochenen Berges begraben! Und dennoch erkannte Eberwein, daß keine Kraft und Menschenhilfe diesem Land und seinen kommenden Geschlechtern größere Wohlthat hätte erweisen können als jene Stunde der stürzenden Felsen. Am verwichenen Abend hatten es ihm die Leute als ein Wunder berichtet, daß seit Menschengedenken der Winter im Gadem nicht so kurz und mild gewesen, der Schnee in den Thälern nicht so früh geschmolzen und der grüne Frühling nicht so zeitig eingetreten wäre als in diesem Jahr. Sinnend schweiften die Blicke Eberweins über das weite Thal hinüber zu den von der Morgensonne beglänzten Ruinen des gebrochenen Berges. Die beiden riesigen Stümpfe waren frei von Schnee, und nur in der breiten Scharte zwischen ihnen dehnte sich im Schatten ein weißes Feld. Auch andere Berge, welche noch im letzten Sommer weiße Köpfe getragen, waren in der Sonne schneefrei geworden, nachdem der gewaltige Eisriese verschwunden war, der die ganze Runde in seinem kalten Banne gehalten. Ein neues „Wunder“! Eberwein seufzte, wenn er des absonderlichen Christenthums gedachte, das in die Köpfe und Herzen seiner Gademer Leute eingezogen war und zu welchem nicht die Lehre der Liebe sie bekehrt hatte, sondern die Not, welche beten lehrt, Waldrams blutiges Ende und Bruder Wampos Bär. Wunder und Wunder, Gottes starke Faust und der strafende Zorn des Himmels – das war der ganze Inhalt ihres Glaubens. Daneben wandelte der Alte aus dem Untersberg durch ihre Herzen und um ihre Häuser, und ihre Kinder schreckten sie mit dem steinernen Gespenst des Spisars – nicht mehr König Eismann, sondern „Wazemann“ hieß der gebrochene Berg, und die starrenden Zacken des Grates hießen „Wazemanns Kinder“. Aber wie auf den gerodeten Flächen mit dem Unkraut die erste Saat, so war in den vom Schmerz geackerten Herzem doch der erste Keim des Glaubens aufgegangen.

Die Arme gegen die Thäler streckend, erhob sich Eberwein. Sie waren ihm gewonnen, nun hatte er sie und wollte sie halten. Nun kam die Zeit, das Unkraut von der Saat zu scheiden, das junge Stämmlein mit Sorge zu pflegen und dem beschnittenen Wildling edle Reiser aufzusetzen. Ob es ihm wohl gelingen würde? Dieses eine wie alles andere, was er zum Wohl dieses Landes und seiner Menschen sann und plante? Eine Antwort konnte nur die Zeit ihm geben. Er atmete tief. „Die wir berufen sind, das Leben der Menschen auf guten Pfad zu lenken, wir können mehr nicht sein, als der Sämann ist auf kahlem Acker. Nur den Samen kann er streuen und geduldig auf die Ernte harren – es wachsen die Halme, wie es der dunklen Erde gefällt, es reifen die Früchte, wenn die Wolken es dulden.“

Der Ton einer Almenschelle traf sein Ohr, und als er aufblickte, sah er über eine grasige Kuppe bläulichen Rauch zum Himmel steigen. Dort oben mußte eine Hütte liegen, und er wollte unter ihrem Dach ein Stündlein friedlicher Einkehr halten. Als er die Höhe der Kuppe erreichte, öffnete sich ein flaches Almfeld, und auf wenige Schritte vor ihm erhob sich ein kleines vor Alter graues Blockhaus. Feuerschein leuchtete durch die Ritzen des Gebälks und aus der offenen Thür, auf deren Schwelle ein junges^Weib saß, einen Säugling auf den Armen wiegend. Die rote Herdflamme bestrahlte die nackte Schulter der kleinen zierlichen Gestalt, während das Sonnenlicht um ihren Schoß und ihre Füße spielte. Mit leisem Stimmlein und mit dem Ausdruck aller Zärtlichkeit summte sie ein Liedchen und hielt die Augen auf das runde Gesichtlein des Kindes gesenkt. Der stille Reiz dieses Bildes schlich sich mit traulicher Wärme in Eberweins Herz. „Gott grüße Dich, junge Mutter!“

Die Sennin blickte auf, und als sie den Mönch gewahrte, erschien sie wie von lähmendem Schreck befallen; sie wollte sich erheben und sank wieder zurück auf die Schwelle, zitternd an allen Gliedern, mit starren Augen und erblaßtem Gesicht, auf dessen Stirn sich eine Narbe zeigte wie ein feiner blutroter Strich. Da erkannte sie der Propst. „Hinzula!“ Er wollte sich nähern. „Weshalb erschrickst Du vor mir?“

Wie in namenloser Angst umklammerte die junge Mutter ihr Kind, und lautlos bewegten sich die bleichen Lippen. Das hastige Gebimmel einer Schelle tönte, dumpfes Stampfen näherte sich, und hinter der Hütte klang eine kräftige Männerstimme: „Wirst halten oder nicht! Wart’ nur, Du! Ich treib’ Dir noch die Wildheit aus Deinem dicken Schädel!“ Ein schwarzer Stier erschien, die Nüstern von weißem Schaum bedeckt, mit gestrecktem Schweif und schlagenden Füßen doch alle Wut des Tieres brach an der zähen eisernen Kraft des hünenhaften Sennen, der mit nackten sonnverbrannten Armen den Kopf des Stiers an den Hörnern gefaßt hielt und zu Boden drückte.

„Schweiker!“ fuhr es mit bebendem Schrei von den Lippen Eberweins, aus dessen Antlitz alles Blut gewichen war.

Als wäre ein Blitzstrahl auf ihn niedergefahren, so stand der Senn’ beim Klang dieser Stimme, die Fäuste ins Leere gestreckt, während der befreite Stier in tollen Sprüngen das Weite suchte. Mit fliegenden Schritten eilte Eberwein auf den Erstarrten zu und rüttelte seinen Arm. „Schweiker! Schweiker!“ Was er mehr noch sagen wollte, brachte er nicht über die Lippen, doch es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in welchem fahle Blässe mit flammender Röte wechselte. „Schweiker! Schweiker!“

Der Hüne schlotterte an all seinen langen schwerfälligen Gliedern, auf der keuchenden Brust zitterten die Wellen des silberblonden Bartes, und wie ein zuckender Krampf hatte es seinen Nacken befallen. Er wollte sprechen und würgte nur heisere Laute hervor. Dicke Zähren kugelten ihm über die braunen Backen. Jetzt hing er mit starren Augen an dem Gesicht des Propstes, dann wieder suchte er mit hilflos irrendem Blick die Hütte, sein Weib und Kind. Und als wäre das herzergreifende Bild, das die junge Mutter in ihrem Schreck und Jammer bot, die einzige Verteidigung, die er dem schweigenden Vorwurf seines Herrn entgegenhalten könnte, so stöhnte er. „Schau’ sie an, Herr ... schau’ sie

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