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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Reitende Vögel.“

Von Dr. Karl Ruß.

Vor einer Reihe von Jahren schon hat die „Gartenlaube“[1] eine Anzahl von Beobachtungen aus dem Kreise ihrer Leser veröffentlicht, welche den Schluß zuzulassen schienen, als ob südwärts ziehende oder nordwärts heimkehrende Kraniche auf ihrem Rücken kleine Vögel trügen. Nach der einen Mitteilung glaubte der Beobachter, diese letzteren bestimmt als Lerchen erkannt zu haben, und zwar hatte er deutlich die Stimmen der kleinen Vögel beim verhältnismäßig niedrigen Vorüberfliegen gehört, ja nach einer Nachricht in dem Fachblatt „Die Natur“ wollte man die von den Kranichen abfliegenden Lerchen sogar gesehen haben. Hatte schon die „Gartenlaube“ jene Vermutungen unter allem Vorbehalt wiedergegeben, so hielt ich persönlich die Sache für unmöglich, zunächst aus dem einfachen Grunde, weil die Lerchen und alle übrigen verwandten kleinen Vögel auf dem Rücken der Kraniche überhaupt nicht sitzen, geschweige denn weithin übers Meer reisen können, da sie keine zum Anklammern und Festhalten geeigneten Greiffüße haben. Dann aber wußte ich mir auch den Irrtum derjenigen, welche die auf den Kranichen „reitenden“ kleinen Vögel an ihren Lock- und Zwitscherlauten deutlich erkannt haben wollten, genugsam zu erklären.

In meiner Jugend besaß ich selbst, außer verschiedenem andern derartigen Gefieder, einen Kranich, den ich als ganz jungen Vogel erhalten hatte und der im Laufe von zwei Jahren zu einem überaus stattlichen Männchen herangewachsen war. Seine natürlichen Laute in früher Jugend waren ein schrillklingendes Pfeifen und späterhin, wenn er wohlgenährt und recht lustig war, ein singvogelähnliches Zwitschern. Dieses letztere ließ er zuweilen noch im Alter von nahezu zwei Jahren hören. Wenn ich ihn von seinen Jagdausflügen nach den Wiesen und dem Seeufer hinter unserem Garten durch den schrillen Ton einer Pfeife zurückrief und er dann Leckerbissen, kleine Stückchen rohes Fleisch oder totgebrühte Fliegen von mir erbettelte, dann piepste, zirpte und pfiff er noch ganz ebenso wie einst, da ich ihn als ganz kleinen, unbefiederten und immerfort hungrigen Pflegling erhalten hatte. Dies Pfeifen und Zwitschern ließ er unter mannigfaltigen Umständen hören, vor allem, wenn er hungrig war, dann aber auch aus Behagen, ebenso aus Aerger und Erregung, wenn man ihn neckte.

Wenn nun im Lauf der Jahre – es sind ja bald zwei Jahrzehnte her – der Streit über die kleinen Vögel auf dem Rücken der Kraniche sich wieder erhob, so galt wohl immer gegen jeden Zweifel der Einwand als der entscheidende, daß man das Zwitschern und die Rufe der kleinen „gefiederten Reiter“ aus naher Entfernung beim Vorüberfliegen der Kraniche gehört habe. Allein diese Angabe wird durch das, was ich eben mitgeteilt habe, in ein ganz anderes Licht gerückt. Man hat ja allerdings derartige zwitschernde Laute gehört und soweit ist alles ganz in Ordnung. Aber was man vernommen hat, sind eben lediglich die Laute der jungen Kraniche selber.

In ganz ähnlicher Weise erklärt sich die Behauptung jenes anderen Beobachters, daß er kleine Vögel von den Kranichen habe abfliegen sehen. Wer im Spätsommer und Frühherbst, zur Zugzeit der Vögel, viel in Feld und Wald verkehrt, wird wissen, daß nicht selten die verschiedenen gefiederten Wanderscharen neben- und durcheinander dahinwirbeln, daß solche Schwärme sich wohl vermischen und dann wieder trennen. Daher ist es immerhin möglich, daß ein Lerchenschwarm, den man vorher nicht bemerkt hatte, nun, indem er plötzlich vorüberstreicht, den Eindruck erweckt, als käme er von den Rücken der Kraniche her.

Ich habe lange gezögert, mit diesem Beweis für die Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit des Reisens kleiner Vögel auf dem Rücken der Kraniche öffentlich hervorzutreten. Da hochangesehene Männer, tüchtige Gelehrte, an deren Wahrhaftigkeit durchaus nicht gezweifelt werden konnte, jene Behauptung aufgestellt und sie in mehr oder minder scharfsinniger und geistvoller Weise zu erklären gesucht hatten, so hielt ich meine Meinung zurück und wartete ruhig ab, bis ich noch anderweitige Bestätigung für meine Ansicht finden würde. Jetzt hat Professor Dr. Rudolf Blasius, bis vor kurzem Präsident des Internationalen Ornithologischen Komitees, seine Stimme erhoben und es ebenfalls für unmöglich erklärt, daß die Kraniche auf einer Reise über 80 bis 100 Breitegrade und auf eine Entfernung von 1200 bis 1500 geographischen Meilen die kleinen Vögel tragen könnten. Auch darauf hat er hingewiesen, daß alle unsere kleinen Zugvögel längst fort sind, wenn die Kraniche zu Ende des Monats Oktober sich zum Abzug rüsten.

Scharf und schneidig weist sodann der bekannte ornithologische Jagd- und Forstschriftsteller Oberforstmeister Professor Dr. Borggreve das „Märchen“ von den „Reitenden Vögeln“ zurück. Auch er kennt nach eigener Beobachtung nicht allein das Piepsen und Zwitschern der jungen Kraniche, sondern besitzt auch ein außerordentlich sicheres Urteil über die Stimmen aller unserer einheimischen Vögel. Allerdings rufe der alte, ausgewachsene Kranich sein „kru-kra“, „kirr-kurr“ und „kruu“, Laute, die gleich Trompetentönen weithin durch die reine Herbstluft schallen und jedes romantisch veranlagte Gemüt in poetische Stimmung versetzen; aber auch das aus den dahinziehenden Kranichscharen wahrnehmbare Gezwitscher, welches den Lockrufen kleinen Gefieders, besonders der Lerchen, ähnle, sei nichts anderes als Kranichlaute, nur daß diese der Jugend dieser großen Vögel eigen seien. Von diesen Lauten des Kranichs spricht ja auch bereits das klassische deutsche Vogelbuch von Naumann, denn da heißt es ausdrücklich. „Die jungen Kraniche piepen und schiepen, auch wenn sie schon auf dem Herbstzuge sind, und selbst bei der Wiederkehr im Frühjahr schreien die meisten noch ‚schiep‘ und ,wiep‘.“

So bleibt also nichts übrig, als die merkwürdige Reisegenossenschaft der Kraniche und Lerchen in das Reich der Märchen zu verweisen. Hübsch ist das Märchen und sinnig, aber es ist eben doch – ein Märchen.




Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.

 (Schluß.)

Die Tage vergingen, und endlich war die Arbeit im Thale so weit gediehen, daß man ohne ernstere Sorge den Winter erwarten konnte. Die Berge waren schon bis auf die Wälder herab mit frischem Schnee bedeckt, und Eberwein rüstete sich zur Heimfahrt nach seinem Mutterkloster, um mit dem Frühjahr wiederzukehren, neue Mönche in das Thal zu führen und den Bau des Klosters zu beginnen. Ein kalter Morgen graute, und in der Herdstube der Klause flackerte das Feuer. Eberwein hatte mit dem Bruder das letzte karge Frühmahl eingenommen; nun gürtete er das Kleid und schnallte die Sandalen an die Füße. Sigenot stand an die Mauer gelehnt, die Arme schlaff, mit nassen Augen und vergrämtem Antlitz. Da klangen Schritte, und eine Gestalt erschien in der Thür. Sigenots Jungsenn’ war es, der von seinem weiten Botengang zurückgekehrt war.

„Guten Gruß, Herr! Ich bin daheim und bring’ die Botschaft!“

Eberwein lächelte. „Ich danke Dir! Du bist ein treuer Bub’! Doch der Hilfe, die Du bringst, bedarf ich nimmer!“ Während er das herzogliche Siegel brach und das Pergament eröffnete, fielen die Blicke des Jungsennen auf den grauköpfigen Bruder, der ihm langsam entgegenschritt. Er stand mit aufgerissenen Augen und klaffendem Mund, zitternd an allen Gliedern; aber da faßte Bruder Sigenot schon den Knaben am Arm und zog ihn aus der Klause. Ein gedämpfter Laut der beiden Stimmen und ein kurzes Schluchzen klang in die Herdstube, während Eberwein beim Schein des Feuers die Botschaft seines herzoglichen Freundes las. Es war ein langer Brief – und doch war all sein Inhalt nur ein einziges kurzes Wörtlein. Eberweins Brauen furchten sich, und es zuckte bitter um seine Lippen. Schwer atmend ließ er das Blatt in die Flammen gleiten. „Was wäre geworden aus meinem Gotteshaus und meinem armen Völklein … hätten die Berge nicht geholfen!“ Er faßte seinen Stab und trat ins Freie. Im erwachenden Frühlicht führte ihm Bruder Sigenot den Burschen entgegen, dem die Thränen noch in den Augen standen.

„Herr, ich komm’ mit einer Bitt’ zu Dir. Schau’ den Buben an! Er ist verwaist und hat ausgesennet in meinem Dienst. Mach’ ihn zu Deinem Fischer und laß ihn auf meiner Heimstatt sein Dächlein bauen!“ Eberwein nickte und strich mit der Hand über den Scheitel des jungen Mannes. „Nun komm, Bruder, und gieb mir das Geleit! Der Bub’ mag harren, bis Du wiederkehrst!“

Sie schritten in den hellen frischen Morgen hinaus, erreichten das Thal der Ache und folgten dem Lauf des Wassers. Während des Wanderns hatten sie noch so viel von Arbeit, von Land und Leuten und von den Sorgen des Winters zu sprechen, daß ihnen Weg und Zeit verrann, ohne daß sie es merkten. Mitten im Gespräch verhielt Eberwein plötzlich die Schritte und blickte rings umher. „Bruder Sigenot, erkennst Du die Stelle?“

„Wohl wohl, Herr. Es ist das Flecklein, auf dem wir uns zum erstenmal gesehen haben.“

„Hier wollen wir scheiden!“ Eberwein faßte die Hand des Gefährten. „Und mein letztes Wort soll Dir allein gehören. Unsere Tage waren Arbeit, unsere Nächte müder Schlaf. Ich konnte Dir nur das Kleid der Kirche geben – für ihre Lehre blieb uns keine Zeit! Und ich rede auch zu Dir in dieser letzten Stunde nicht als Priester – nur als Mensch zum Menschen. So höre die kurze Lehre, welche mein Herz davongetragen aus allem Sturm und aller Not, die über uns gekommen: Du lebst … und


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