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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Hältst Du Dich ihm gegenüber für ganz sicher, Lore?“

Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht, während sich ihre Blicke mit den seinigen kreuzten.

„Pfui, Hermann!“ rief sie mit bitterem Lachen, sich hoch aufrichtend. „Wenn ich mich aber je einmal nicht sicher fühlte – was schadet es, wenn ich mich auf denselben Standpunkt stelle wie die Herren der Schöpfung?“

Der Ton ihrer Stimme schnitt ihm ins Herz. Das war nicht mehr die Lore, die er einst geliebt. Es lag etwas Herbes und zugleich Frivoles in ihrer Aeußerung. Ein heißer Zorn gegen den, der in dieser Frauenseele solche Verheerung hervorgerufen, schwoll in ihm auf. „Lore!“ sagte er nur, mit tiefer Stimme, in der etwas von seiner inneren Erregung zitterte.

Da – dasselbe Gesicht, das er an der kleinen Kousine so wohl gekannt; dies scharfe Herunterpressen der Mundwinkel und diese langsam in die Wimpern tretenden großen Thränen! Es war ihm im Gedächtnis geblieben; kein anderer Mensch in der Welt weinte so. Einige Thränen rollten auf das Pelzwerk ihres Mantels und gefroren dort in der eisigen Luft zu glitzernden Perlen. Er blickte darauf nieder und alles ward weich in ihm.

„Lore, sei nicht traurig! Du bist Dir über Deine Seelenstimmung nicht klar. Was ist vorgefallen? Oder hast Du nur schlechte Nerven? Kopf hoch, Lore!“

Sie erwiderte nichts; ihre Gedanken erratend, fuhr er fort: „Es ist wahr, Bruno ist ein wenig leichtlebig und manches gute Gefühl in ihm kommt deshalb nicht auf, aber das eine ist sicher: er hat Dich sehr lieb!“

„Ach ja, ich weiß –“ sie hob energisch den Kopf – „ja, ja, er hat mich lieb, nach seiner Art. Aber zuweilen möchte ich jemand haben, auf den ich mich stützen könnte!“ Sie hing sich schwer an seinen Arm.

„Was wird aus ihr werden?“ dachte Hermann mit einem unbestimmten Angstgefühl. –

Die elegante Welt Berlins tummelte sich auf der Eisbahn. Wartende Wagen fuhren im Schritt auf und nieder, am Ufer wanderten, in warme Pelze eingehült, die mit erwachsenen Töchtern gesegneten Mütter, die ihre Schutzbefohlenen beobachteten und sich ärgerten, daß die Aelteste wieder von einem eleganten Gardeoffizier sich über die Eisbahn führen ließ anstatt von dem dicken pommerschen Gutsbesitzer.

Prinz Sissi war schon auf der Bahn, in einem seltsam aus russischer Nationaltracht und moderner Pariser Mode gemischten Sportanzug. Trotzdem sah er gut aus mit seinem unvermeidlichen Blumenstrauß im Knopfloch und dem keck in die Höhe gedrehten kleinen Schnurrbart. Er fuhr ausgezeichnet. Alles an ihm war Leben, Bewegung, und wenn er seine Fertigkeit übte, sammelte sich bald ein Kreis Lernbegieriger und Bewunderer um ihn, so daß er sich gezwungen sah, blitzschnell wieder in der Menge zu verschwinden, um mit Frau von Weßnitz davon zu fliegen.

Hermann mußte mehrere Kameraden begrüßen und bekannte Damen aus seinen Kreisen. Auch Edda Helm traf er, die sich unglaublich einfach ausnahm inmitten dieser eleganten geputzten Gesellschaft. Kein Pelzwerk, nur eine eng anschließende Jacke, die mehr für Frühling und Herbst zu passen schien als für einen Wintertag von zehn Grad Kälte. Nicht einmal ein Muff. Ihre beiden Hände steckten in den Seitentaschen ihrer saisonwidrigen Jacke, zwischen den Aermeln und den schwarzwollenen Handschuhen leuchteten in zwei roten Streifen die Handgelenke hervor.

Die meisten von denen, die dieser Erscheinung begegneten, warfen spöttische Blicke auf sie, aber feinere und schärfere Beobachter musterten doch im Vorbeifliegen eine Sekunde mit Interesse das feine leicht gerötete Gesicht mit den kohlschwarzen Augen und den scharf über die Stirn gezogenen Brauen.

Hermann begrüßte sie. Seit ihrem ersten Zusammentreffen hatten sie sich nur einmal zufällig auf der Straße getroffen und er hatte sich bei dieser Gelegenheit auf dem Wunsch ertappt, die junge Doktorin noch oft bei seiner Schwägerin zu finden.

Jetzt lief er neben ihr her und machte einen Versuch, ihr wie üblich die Hand als Stütze zu reichen, gab aber diesen Versuch lächelnd auf, da sie seine Absicht, die andern Damen gegenüber selbstverständlich war, gar nicht zu bemerken schien. Merkwürdige Geschöpfe, diese Frauen mit männlichem Beruf, dachle er. Sie wachsen geradezu über alle Grenzen hinaus, mit denen sonst die Galanterie der Herren ihr Geschlecht zu umgeben pflegt. Na, sie sind nun einmal so, sagte er sich. Und doch errang Edda gegen seinen Willen in seinem Innern einen Achtungserfolg, der ihm selbst unbegreiflich war, denn er hielt auf das Hergebrachte und Unauffällige. Still betrachtete er sie von der Seile. Selbst die Art, wie sie sich auf dem Stahlschuh bewegte, war eigenartig. Nichts von unsicherem Schwanken in den Hüften, kein kurzes unelegantes Kratzen der Schlittschuhe auf dem Eise; in sicheren großen Zügen, die leichte Bewegung nur durch ein gleichmäßiges Schwanken ihres Kleides verratend, flog sie neben ihm dahin.

Endlich, nach einem tüchtigen Umlauf, hielt sie plötzlich an, lächelte aus hochroten Wangen ihren Begleiter unbefangen an und sagte mit einem tiefen Atemzug: „Herrlich!“

Einfach „Ja“ darauf zu erwidern, schien ihm zum mindesten überflüffig; sie schien auch keine Antwort zu erwarten.

„Ich habe Ihre Schwägerin noch nicht gesehen.“

„Dort läuft sie mit dem Russen.“

Edda machte ein Gesicht, als hätte er ihr etwas Unangenehmes gesagt, und zuckte mit den Schultern, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.

„Was meinen Sie?“ fragte Hermann.

Ein halb erstauntes Lächeln, weil er in ihren Gedankengang eindrang. „Als Mensch nichts, als Frau sehr viel. Wer Ihre Schwägerin kennt, würde ganz gleichgültig diesem eigentümlichen Verhältnis zusehen können. Sie ist unvorsichtig, weil ihr selbst kein Gedanke, keine Handlung in den Sinn kommt, die nicht makellos wäre. Sie hat sich in die Rolle einer Beschützerin dieses steuerlosen großen Kindes hineingelebt und kann nicht wieder heraus, weil ihr niemand hilft und die Augen öffnet.“

„So sagen Sie ihr ein Wort darüber, Fräulein Helm!“

„Nein, das vermag und will ich nicht. So etwas kann nie eine Frau der anderen sagen; wir haben nun einmal unsere berechtigten Schwächen.“

Hermann fühlte, daß sie recht hatte, und wunderte sich über ihre richtige Anschauung.

„Der einzige, der dies thun darf, ist Ihr Bruder.“

Weßnitz blickle sie erstaunt an. „Nach meiner Meinung kann er nur zweierlei thun – entweder die Sache als nicht beachtenswert fortgehen lassen oder den Prinzen ersuchen, seine Aufmerksamkeiten und die Besuche bei seiner Frau einzustellen. Das bedeutet dann ein Duell.“

„Ach, immer mit Ihrem Duellieren! Es ist beinahe lächerlich. Als ob dadurch irgend etwas gebessert würde! Ein Mann im Besitz einer Frau wie Ihrer Schwägerin hat etwas anderes zu thun. Er sollte ihre Hand nehmen und sagen: Liebe Frau, Du bist ein großes Kind. Nimm einmal Deinem Schatten etwas Sonne und er wird schwächer werden; ich will Dir ganz in der Stille dabei helfen. Lore würde das einsehen und den richtigen Weg wohl zu finden wissen.“

Eddas Augen blickten klar und ruhig über das Getümmel der Schlittschuhläufer hinweg.

Wie energisch dies Mädchen alles anfaßte! Nichts von Sentimentalität, eine Natur, die überall den richtigen Weg suchen und finden würde! Und doch konnte Hermann ihr nicht völlig zustimmen. Sie beurteilte alles von der Höhe ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit aus und glaubte, andere Menschen müßten in ihrem Thun und Lassen genau so verstandesmäßig und regelrechl vorgehen, ohne den Schwächen und Fehlern, den seltsamen Regungen des menschlichen Herzens zu folgen. Ob sie wohl stets so war, diese Edda Helm? Ob nichts sie aus ihrer Klarheit herausbringen konnte?

„Im Prinzip mögen Sie recht haben, Fräulein Helm. Aber ist mein Bruder ein Mann, der so zu seiner Frau sprechen könnte?“

Sie preßte die Unterlippe fest zwischen die Zähne. „Nein, das ist er nicht. Haben Sie Ihre Schwägerin sehr lieb, Herr von Weßnitz?“

Eigentümlich! So fragte ihn vor einiger Zeit auch Prinz Sissi.

„Ja, gewiß! Wir wuchsen als Kinder zusammen auf.“

„Das meine ich nicht; es muß eine stärkere Neigung sein.“

„Und welches andere Gefühl könnte es geben, das ich selbst mir als Ehrenmann erlauben dürfte?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_504.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2022)