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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

und hagelndem Gestein verschwinden sah. „Seine Lieb’ zu mir hat ihm den Tod gebracht!“ Die Stimme versagte ihm, und mit zitternden Händen bedeckte er das Gesicht. Schweigend legte Sigenot den Arm um die Schulter des Weinenden.

„Ich hab’ schon nimmer schnaufen können,“ fiel Rötli mit leisen Worten ein, als spräche sie im Traum, „doch wie ich den Liebli sagen hör’: ‚jetzt kommt der Bid‘ ... da hab’ ich noch einmal aufgeschaut in Schreck und Grausen. Berghoch ist eine schwarze Wand auf uns zugelaufen, und die Todesangst hat geschrieen in mir: Mein guter Herre, Du mein Gott!“

Sigenot nickte. „Und er ist gekommen, den Du gerufen hast in Treu’ und Glauben!“

„Gekommen ist er!“ Mit schimmernden Augen blickte Edelrot ins Leere, und ein Schauer rann durch ihre Glieder. „Auf einmal ist er dagestanden vor uns, großmächtig anzuschauen, und einen grauen Mantel hat er gehabt, wie ein Wald so breit. Sein Schnaufer hat uns angeblasen wie ein Sturm, und derweil mir die Sinn’ verloschen sind, hat er den Mantel um uns hergeschlagen und hat uns aufgehoben in die Lüft’. Ich hab’ nimmer Aug’ und Ohr gehabt, aber einwendig in mir ist alles licht und hell gewesen. Ich hab’ gemeint, ich schlaf’ und hätt’ einen feuerfarbigen Traum ... und gewesen ist mir, als thät’ ich auf lauter Daunen liegen und wär’ selber so leicht wie ein winziges Federlein. So süß und wohl ist mir ums Herz geworden, ich weiß nicht, wie, und nur das einzig’ hab’ ich noch gespürt: ich fall’ und fall’ ...“ Tief atmend verstummte Edelrot und strich mit den Händen über das Gesicht. „Wie lang’s gedauert hat, das weiß ich nimmer. Ich hab’ nur auf einmal gemerkt, daß ich leb’ und daß ich mich rühren kann. Die Augen hab’ ich aufgethan, aber um mich her ist alles schwarz gewesen. Und überall ein Rauschen und Sausen, als wär’ ich mitten drin in einem wilden Bach. Schmerzen hab’ ich gespürt in allen Gliedern und hab’ gemerkt, daß ich auf lauter Steiner lieg’. Erst hab’ ich mich aufgesetzt, und wie ich das Greifen anfang’, spür’ ich ein Gesicht und spür’ eine Hand, die sich rührt. Da geht’s mir völlig heiß durch Leib und Seel’ ... ‚Liebli? Bist Du’s oder nicht?‘ frag’ ich und hör’ ihn sagen: ‚Wohl wohl, Schätzli! Ja lebst denn noch?‘ Gesehen hab’ ich ihn nicht, aber seine Stimm’ ist ’s gewesen, und laut weinen hab’ ich müssen. Ich streck’ die Arm’ nach ihm, und da hat er mich schon genommen und hat mich gehalset ... und all’weil’ sind wir gesessen, ich weiß nicht, wie lang’! All’weil’ leichter ist mir geworden, und ich frag’: ‚Weißt nicht, wo wir sind?‘ Der Liebli sagt: ‚Beim Bid in aller Tief’!‘ Aber ich hab’ den Kopf geschüttelt: ‚Wir leben ja doch ... und der uns gehoben hat, ist nimmer der Bid gewesen, ein anderer, Liebli, ein anderer!‘ Drauf sind wir all’ zwei still gewesen und haben um und um geschaut in der Nacht ... all’weil’ haben wir niesen und husten müssen und die Augen sind mir gewesen wie Feuer. Um und um haben wir die schwarzen Berg’ gesehen und haben weit aus der Tief’ herauf ein fürchtiges Rauschen gehört! Auf einmal ruft der Liebli: ‚Wir liegen im Windacher See, mitten drin!‘ Ich hab’ kein Wasser greifen können, aber der Liebli sagt: ‚Wohl wohl, ich spür’ die Näss’, wir müssen auf einem Wasen liegen, der übers Wasser schaut! Ja sag’ nur, sag’, wie sind wir denn von der Oedhütt’ in den See gekommen?‘ Da geht ihm die Red’ aus, völlig zitterig springt er auf und hat aus tiefster Seel’ ein Schreien angehoben: ‚Vater! Vater!‘ Aber alles ist still gewesen ... nur in der Tief’ drunt’ hat’s gerauschet!“

Ein beklommener Seufzer unterbrach die leisen Worte, und in das Schweigen, welches die drei Menschen umfing, tönte das dumpfe Rauschen der Ache. „In Angst und Herzleid sind wir gesessen die ganze Nacht und all’ zwei haben wir uns sagen müssen: sell droben ist nimmer Leben und Hilf’, die Berg’ sind gefallen, und haushoch müssen die Felsen liegen. Und wie der Mondschein aufgestiegen ist und der Tag gegrauet hat, haben wir den Eismann nimmer gesehen ... Droben über dem Albenthal und der Oedhütt’ ist’s gelegen wie ein steiniges Feld, lauter Blöck’ und rauhe Köpf’ ... und herunten im Thal, überall um uns her, ist alles ein Gries und Schlamm gewesen. Keinen See mehr hast gesehen, nur braune Lachen um und um, und in dem trüben Wasser hat’s gewimmelt von Hechten und Ferchen. Wir haben uns scheu aneinander angedrückt, und derweil um unsere Füß’ her die Fisch’ gesprungen sind, haben wir den Heimweg gesucht auf schlammigem Grund, über dem vor Tag und Nacht das Wasser noch gestanden ist, tief wie ein Brunnen.“

Sigenot erhob sich, und aufblickend zum Kreuz, zog er die Geretteten an seine Brust. „Der Euch hinausgetragen über fallende Berg’, hat auch den Weg für Euch gebrochen durch See und Flut. Gegen die Guten ist er gut, gegen die Treuen ist er treu ... schauet auf zu ihm und danket seiner Lieb’! Und jetzt kommet, Ihr guten Kinder, ich will Euch heimführen zu Eurem Herd!“ Sigenot faßte Ruedliebs Hand und die Hand der Schwester, während sie über den Hügel niederstiegen, stockte ihm der Fuß. „Schau’, Rötli, noch all’weil’ steht Dein junges Bäuml! ... Gelt, Ruedlieb? Wenn der Winter die Erd’ gefrieren macht, so heb’ das Bäuml mit allen Wurzen aus und trag’s hinüber in Deinen Hag! Sell hat es guten Boden!“

Ruedlieb nickte nur, und seine Lippen zuckten. In stillem Schmerz und mit nassen Augen nahmen sie Abschied von der verwüsteten Stätte, welche so viel des Glücks getragen, doch mehr noch an Not erfahren hatte. Jeden der ausgestreuten Balken, jedes Stücklein des zertrümmerten Hausgerätes streifte noch ihr Auge, und der letzte Blick irrte hinaus über den weißen See, in dessen Tiefe Mutter Mahtilt das weite Grab ihres Mannes teilte. Schwere Thränen rannen über Sigenots bleiche Wangen. „Wicho, mein guter Wicho! Hüt’ mir den Vater und die Mutter in Treu’!“ Sacht schwankten die von weißem Schaum bedeckten Wellen gegen das Ufer, und wie leises Flüstern ging es durch das zerschlagene Schilf, in welchem einzelne Halme sich schon wieder aufzurichten begannen.

Langsam schritten die drei Menschen der Ache zu. Als sie die von den langgestreckten Schuttströmen durchzogenen Halden der Schönau erreichten, sahen sie überall um die Trümmerstätten die Männer bei der Arbeit. Mitten in einem Häuflein der Schaffenden erkannte Sigenot eine Gestalt im schwarzen Gewand; Eberwein war es, und rastlos schwang er die Picke.

Während Ruedlieb und Rötli, in träumendem Schauer über die Stätten der Verwüstung blickend, ihrem Wege folgten, blieb Sigenot stehen. Es zog ihn zu Eberwein. Tief atmend murmelte er: „Nur noch den einzigen Weg für mich ... und ich komm’, Herr, ich komm’!“ Er folgte den beiden, und als er sie erreichte, drängte er mit stammelnden Worten: „Eilet, Kinder, die Zeit ist teuer!“

Sie schritten rascher aus. Ueberall gewahrten sie die Bahrenträger mil ihren stillen Lasten. Nirgends ein hastiges Rennen, nirgends Geschrei und laute Rufe, überall dumpfe Ruhe. Frauen gingen an ihnen vorüber, thränenlos und still. Kein Gruß wurde getauscht, kein Wort gewechselt, ein stummer Blick nur war alle Zwiesprach’, welche die sich Begegnenden führten – dieser eine Blick aber redete tausend Worte des Jammers. Als Ruedlieb dem väterlichen Hag sich näherte, begann er so heftig zu zittern, daß Sigenot ihn stützen mußte. Sie brauchten das Hagthor nicht zu öffnen, es war zerschlagen; die Hofreut leer, kein Knecht und keine Magd zu sehen, kein Rind und kein Geflügel; die Ställe lagen niedergedrückt, aber die Immen summten emsig, als möchten sie die letzten Tage des Herbstes doppelt fleißig benutzen, um die von Wazemanns Knechten geleerten Körbe mit Vorrat für den Winter zu füllen. Das Haus stand unversehrt, nur einzelne Löcher klaften im Moosdach, und unruhig flatterten die Tauben um den Giebel. Schweigend betraten Ruedlieb und Rötli den Flur, dessen Thür sie erbrochen fanden. Sigenot war ihnen vorangegangen in die Stube und zündete auf dem Herd ein Feuer an.

Die feuchten Aeste prasselten, und nur mühsam erwachten die Flammen in dem qualmenden Rauch. Doch es währte nicht lange, so hatte der Rauch sich verzogen, und das Feuer loderte in reiner Helle. Ruedlieb und Rötli standen noch immer unter der Thür.

„Schauet, Kinder, wie schön die Herdflamm’ brennt!“ sagte Sigenot mit schwankender Stimme. „So wahret halt das heilige Feuer in Treu’ und Lieb’, und der gütige Herr sell droben wird Euer Leben hagen wider Gefahr und Not!“

Laut schluchzend hielten Ruedlieb und Edelrot sich umfangen, und in ihren heiß erquellenden Kummer mischte sich ein erstes schüchternes Gefühl der Freude, eine Ahnung kommenden Glücks. Lange hingen Sigenots Augen an dem weinenden Paar. Als er sich schweigend zur Thür wandte, eilten sie ihm erschrocken nach. Doch er löste seine Hände. „Lasset mich! Denn ich hab’ einen Weg, der nimmer Aufschub leidet.“

„Not liegt über allen Wegen!“ stammelte Ruedlieb. „Wohin denn willst Du?“

„Wohin ich muß!“ Seine ganze Gestalt erzitterte, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_495.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2021)