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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(28. Fortsetzung.)


Wie anders hatte Eberwein die Stunde sich gedacht, da er zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde stehen würde! So schön, so reich an Hoffnungen und Plänen! Als den verheißungsvollen Anfang einer guten Zeit! Nun war die ersehnte Stunde gekommen – und er stand inmitten dieser tiefgebeugten, nach Trost und Hilfe bangenden Menschen wie ein Hausvater, der von weiter Reise zurückkehrt, freudiger Sehnsucht voll, und unter seinem Dach den Tod und alles Elend findet. Wie sollte er trösten, da er doch selbst des Trostes bedürftig war wie ein Dürstender des Trankes. Sprechen konnte er nicht – er drückte nur hier eine zitternde Hand, blickte mit heißem Erbarmen in ein brennendes Auge, streichelte dort ein gebeugtes Haupt, schloß einen Wankenden in seine Arme, drückte ein Kind an seine Brust und gab es der Mutter zurück, während ihm die Thränen über das bleiche Antlitz rannen.

Und so gab er Trost, ohne daß er es wußte: der Schmerz hat seine Sinne, und diese Menschen empfanden es wie einen warmen Lichtstrahl in ihrem dunklen Jammer, daß einer unter ihnen weilte, der es gut mit ihnen meinte wie ein treuer lange erprobter Freund – sie fühlten, daß all sein Erbarmen, alle Liebe seines Herzens ihr Eigen war. Ihre Stimmen lösten sich aus dem stummen Bann, ihr Schluchzen wurde laut, und eine Greisin faßte den Arm des Mönches, brach ihm eine Gasse, und auf die Toten deutend, weinte sie: „Schau’, guter Herr, schau’ ... da liegen sie auf der Erd’ ... um Deinen heiligen Bruder her!“

Im ersten Entsetzen deckte Eberwein den Arm über seine Augen. Auf einer Bahre aus Buchenästen ruhte Waldram, die gebrochenen Augen noch offen, das schwarze Kleid übergossen von geronnenem Blut. Und um ihn her im Kreis eine stille Gesellschaft, Männer, Weiber und Kinder, Leiche neben Leiche, sie alle geschmückt mit der roten Blume ihres erloschenen Lebens.

Zitternd, das Antlitz von fahler Blässe bedeckt, stand Eberwein vor dieser wüsten Orgie des Todes. Seine verstörten Augen suchten den Himmel, und mit bleichen Lippen stammelte er: „Wir müssen glauben ... oder verzweifeln!“ Wankend schritt er zwischen den Leichen auf die Bahre Waldrams zu und schloß dem Toten mit bebender Hand die Lider. „Vergieb mir, wenn ich Dir Unrecht that im Leben!“ Seine Blicke irrten über die Gesichter der Lebenden, er suchte nach einem Trost, den er spenden könnte, und wußte kein Wort zu finden. Worte? Er fühlte, hier gab es nur einen Trost noch: die helfende That! Schwer atmend richtete er sich auf und stand inmitten der Leichen, als wäre er selbst noch eben auf der blutgetränkten Erde gelegen und hätte sich, wie durch ein Wunder, starren Leibes erhoben.

Scheu näherte sich der Köppelecker. „Herr, laß Dir sagen, wie der heilige Mann gestorben ist ...“

Eberwein wehrte mit der Hand. „Er ist ein Toter unter Toten ... wir wollen der Lebenden gedenken!“ Einen letzten Blick noch warf er auf die Bahre Waldrams, dann schritt er aus dem Ring der Leichen hervor und strich mit der Hand über das Haar der Greisin, die ihn geführt. „Mütterlein, sammle die Kinder und führe sie zu einem sicheren Hag – Tod und Wunden sind kein Anblick für Kinderaugen.“ Dem Köppelecker befahl er: „Wähle die Knaben aus, welche bei Kräften sind und die Wege kennen. Sie sollen Botschaft tragen zu den entlegenen Gehöften, zu allen Hochbauern auf dem Göhl und Untersberg und die Männer zur Hilfe rufen. Ihr Frauen und Mädchen! Brechet Aeste und flechtet sie mit Stangen zu festen Bahren!“ Er sandte sie zu einem nahen Gehölz, damit ihnen das gräßliche Bild der Leichen entzogen wäre. Zwölf bejahrte Männer wählte er; sie sollten die Toten zur Klause tragen und vor dem Kirchlein niederlegen. Dann hob er einen Spaten von der Erde. „Ihr anderen Männer alle! Zu mir!“

Jedem wies er einen Teil der Arbeit zu, keiner sollte müßig stehen, keinem die Zeit verbleiben, stumpf zu versinken in Schmerz und Jammer. Es gab keinen Widerspruch, sie alle gehorchten jedem Wort und Wink. Keiner fragte: gilt die Hilfe mir? Gilt sie dem Nachbar? Die gemeinsame Not hatte sie mit eisernem Band aneinander geschmiedet wie zu einem einzigen Wesen, das nur einen Schmerz und Verlust empfand und um all’ die Leichen weinte wie um einen Toten.

Eberwein teilte die Männer in Gruppen, gab jeder Gruppe einen Führer, den er mit prüfendem Blick erwählte, und sandte die Häuflein nach verschiedener Richtung aus, während er selbst mit wenigen Männern zu den Stätten eilte, auf welchen die Zerstörung am übelsten gewaltet hatte. Er kam zu einem Haus, welches bis zum Giebel unter dünn gemahlenem Schutt begraben lag; nur ein Teil des verschobenen Daches mit wirr in die Luft starrenden Balken war noch zu sehen. Als Eberwein über die Böschung emporklomm, um durch die Lücken des Daches einen Weg ins Innere des Hauses zu suchen, sah er etwas im Schutt sich bewegen gleich einem Wurm. Er begann mit den Händen zu graben und zog ein Knäblein hervor; es lebte und war unversehrt an allen Gliedern, nur das Mäulchen und die Augen waren mit Schlamm verklebt. Als ihm das Gesichtchen mit Wasser überspült wurde, begann es zu niesen, schob mit dem roten Zünglein die Erde über die Lippen hinaus ... und lächelte.

Diese erste Rettung belebte die Männer, streifte den letzten Rest des lähmenden Bannes von ihnen und spornte sie zu heißem Eifer. Einer von ihnen eilte mit dem Kind dem Gehölze zu, in welchem die Frauen bei der Arbeit waren. Die Mutter des Kindes fand sich nicht unter ihnen – eine Schwester nur. Weinend und lachend umklammerte sie das Bürschlein und gab es dem Mann zurück. „Trag’s nur hin, wo die anderen sind ... ich muß schaffen, oder der gute Herr könnt’ zürnen!“

Als der Mann den Hag erreichte, in welchem die Kinder versammelt waren, sah er die Kleinen dicht gedrängt um die Greisin sitzen, welche mit zitternder Stimme erzählte: „So hauset er zu tiefst im Untersberg, und derweil er schlaft, wachst ihm der lange Bart um den steinernen Tisch herum. All’ hundert Jahr’ nur wacht er einmal auf ... und wenn er im Wachen den ersten Schnaufer thut und hebt das einschichtig’ Aug’, so geht ein Rumpler durch alle Berg’ und überall fallen die Steiner ...“

„Gelt? So wie gestern?“ fragte ein blasses Dirnlein scheu und beklommen.

„Wohl wohl! So wie gestern! Und da thun sich die Felsen vor ihm auf, und lichtscheinig steigt er aus dem Berg heraus ... überall geht er um im Thal, und wo er einkehrt, bringt er die gute Zeit!“




37.

Sagentrost und Wunderglaube! Zwei Blumen im steinigen Garten des Lebens! Sie sprossen auf dem Boden gewaltiger Ereignisse wie Blüten nach schwerem Gewitterregen und senken ihre Wurzeln in die Herzen des Volkes, wie das Immergrün sich einnistet in die Fugen des Gesteins.

In der gleichen Stunde, in welcher die Kinder atemlos den Worten der Greisin lauschten, saßen fern am Ufer des Schönsees drei bleiche Menschen dem neu errichteten Kreuz zu Füßen. Doch nicht auf der Lände erhob sich das heilige Zeichen, sondern auf der Höhe des leeren Hügels, zwischen den mit Schlamm bedeckten Resten des Herdes. Die verschlungenen Hände auf die Knie gestreckt, vorgebeugten Hauptes, saß Sigenot zwischen Ruedlieb und Edelrot, auf deren blassen Wangen noch die Spur der Thränen schimmerte, welche sie um die Mutter geweint. Nicht mit schreiendem Jammer hatte sie die Kunde gehört, mit wortlosem Schmerz, der es als tröstende Wohlthat empfand, daß er die entseelten Reste des geliebten Wesens nicht mehr schauen sollte. So stand das Bild der Mutter vor der trauernden Seele des Kindes noch lebend, warm und beseelt, die treuen Augen glänzend von aller Zärtlichkeit jener nächtlichen Scheidestunde, in welcher Mutter Mahtilt den letzten Kuß auf die Lippen ihres Kindes gedrückt.

Mit nassen Augen blickte Rötli empor in das leuchtende Blau des Morgens, und während sie in schwärmerischem Schmerze das verklärte Bild der Mutter sah, durchzitterte ihre Seele das traumhafte Nachempfinden ihrer wundersamen Rettung. Ruedlieb erzählte. Mit stockenden Worten schilderte er den letzten Morgen, den sie in der Oedhütte verbracht, die Sorgen des Vaters und den Beginn der furchtbaren Ereignisse bis zu dem Augenblick, in welchem er Edelrot mit sich fortgerissen und den Vater unter grauem Rauch

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