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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

gekommen war, um nach Hiltischalk und Hiltidiu zu suchen. „Herr?“ fragte der Greis mit müder Stimme. „Hast Du das Kind aus der Flut gehoben? So mußt Du der Mutter auch verzeihen, daß sie den Dank vergessen hat. Drei Kinder hat ihr das Wasser genommen ... und nur ein einziges hat sie lebend wiedergefunden. Die anderen zwei, die liegen sell draußen im Schapbacher Wald ...“

Während Eberwein schweigend stand, von tiefer Bewegung erfüllt, sprach der Alte mit langsamen Worten von der Verwüstung, welche die jäh erscheinende Sturzflut im Thal der Ramsau angerichtet. „An die zwanzig Häuser liegen, das Pfarrhaus auch, und die Kirch’ dazu ... und viel Leut’, Herr, viel Leut’ gehen ab. Mein ältester Bub’ ist auch dabei, sein Weib und alle fünf Kinder ... sieben Leut’ auf einmal!“ Die Stimme des Alten zitterte. „Da käm’ ich wohl nimmer drüber weg, wenn ich nicht sagen müßt wie Bruder Hiltischalk: giebt der liebe Gott mit der einen Hand, so wird er wohl mit der anderen auch nehmen dürfen! Wohl wohl ... ich hab’ um den frommen Bruder recht getrauert, aber schau, Herr, dem hat’s der liebe Gott gar gut vermeint, daß er ihn die heutige Not hat nimmer schauen lassen! ... Jetzt muß ich aber gehen – schau’ nur, wie die unsinnige Mutter noch allweil rennt ... sie wird doch an keinen Baum hinlaufen! Am End’ fallt sie gar noch mit dem Kind in eine Grub’!“ Mit lauter Stimme rief er: „He, Du! So halt’ doch ein lützel!“ und eilte, so schnell ihn seine alten Knie trugen, dem Weibe nach.

Eberwein stand mit nassen Augen. „Bruder Hiltischalk! Wo Dein verlorenes Grab auch immer liegen mag, unter Fluten oder Felsen, es verlanget nach keinem Kreuzlein und ehrenden Zeichen! Im Herzen dieses Christen sah ich Dein Denkmal stehen!“

Weit über das Thal her, von den grauen Halden der Schönau, tönte ein Gewirr von Stimmen. Freudig erschrocken lauschte Eberwein. „Dort leben noch Menschen!“ In Hast stieg er nieder über das schlammige Gehäng. Seine Augen spähten nach einer Stelle, an welcher er den sinkenden Strom der Gewässer übersetzen könnte. Ueber Felsblöcke und angestaute Bäume springend, gewann er das andere Ufer und eilte über den Waldhang empor, daß ihm der Atem fast verging. Zwischen verwüsteten Büschen sah er schon die steinernen Schollen liegen, welche wie Hagel aus den Lüften gefallen. Seine Schritte beflügelnd, erreichte er einen zerstörten Hag, in dessen Mitte ein Felsblock lag, von der Größe eines Hauses; doch er hörte keinen Laut des Jammers, nur den Hall eines emsig schlagenden Beils und eine freudige Knabenstimme: „Ja schau’ doch, Gobl-Aehni, schau’, da kommt der Herr, der gute Herr!“

Die Schläge verstummten nicht, als hätte der fleißig Schaffende kein Ohr. Durch eine Lücke des Hages sah Eberwein den Greis bei der Arbeit stehen: nackten Leibes, die Hüfte von einem Lumpen umwunden, schwang er das Beil mit der Kraft und dem Eifer eines Jünglings. Nicht weit von dem Alten, beim zerfallenen Hagthor, saß Huze in der warmen Sonne, die wunden Füße von grauen Fetzen klumpig umwickelt. Und an der Seite des Knaben kauerte, lächelnd und stillvergnügt, das kleine Dirnlein aus dem Schapbacher Wald. Beim Anblick des Mönches richtete Huze sich auf und versuchte in heller Freude ein paar hinkende Schritte; doch Eberwein eilte dem Knaben entgegen und umschlang ihn, keines Wortes mächtig. „Gelt, Herre, gelt?“ lächelte der Bub’ zu ihm auf. „Was sagst: was der liebe Vater im Himmel alles an mir gethan hat! Schau’ nur den Aehni an! Wie er schaffet an unserem neuen Haus! Du! Wie der mich lieb hat! Und alles, alles hat der Vater sell droben gemacht! So gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr!“

Eberwein konnte sich der Thränen nicht erwehren. „Mein Kind! Ich danke Dir für dieses Wort!“

Mit großen Augen schaute der Bub’ ihn an. „Danken! Ja warum denn, Herre? Es ist ja Dein eigen Wort! Hast es mich ja selber gelehret, in Wazemanns Bußloch: so gut wie der Vater im Himmel, so gut ist keiner mehr!“

„So gut ist keiner mehr!“ klang es leise von den Lippen des Mönches, während seine Blicke über alles Elend schweiften, das ihn umgab, und hinausirrten über die verwüsteten Halden. Tief atmend strich er mit den Händen über das struppige Haar des Knaben, sah ihm in die leuchtenden Augen und flüsterte: „Werdet wie die Kinder!“

Das Beil in der Faust, kam der alte Gobl zum Thor. „Ich grüß’ Dich, Herr! Und schau’, ich sag’s gleich selber. Du hast recht gehabt! Mein Apfelbaum ist hin, nacket steh’ ich da ... aber all’weil’ freut mich das Leben wieder!“ Er faßte die Hand des Knaben, der ihm mit mühseligen Schrittlein entgegenhumpelte, und zog ihn zärtlich an sich. „Was sagst, Herr, wie der Bub’ sich macht! Und so viel gleicht er meiner lieben Dirn’ ... die ganzen Augen hat er von ihr, und ich mein’ wohl, das gute Herzl auch!“ Er hob das Kinn des Knaben und lachte ihn an. In stummer Bewegung blickte Eberwein auf diese beiden Menschen: das Alter in nackter Not, die Jugend in Schmerz und Wunden – und dennoch in den Augen beider die lachende Freude des Lebens.

Dumpfe Stimmen, von einem Windhauch über die Halden hergetragen, unterbrachen die Stille. Lauschend hob Eberwein den Kopf und strich mit der Hand über die verträumten Augen.

„Lus’ nur, Herr!“ sagte der Greis, und seine Stimme wurde scheu und leise. „Es haben nicht alle Leut’ den schiechen Tag so gut überstanden wie mein Bub’ und ich. Die Leut’ sind gefallen wie die Fliegen im Frost. Sell drüben schleppen sie die Toten auf ein Häufl ... einer von Deinen Gottesleuten ist auch dabei.“

Was der Alte noch weiter sagte, hörte Eberwein nicht mehr. Bleich bis in die Lippen, hatte er sich abgewandt und eilte dem verschwommenen Hall der Stimmen entgegen. Immer näher klang das Gesumm der Stimmen, und endlich gewahrte er auf freiem Feld einen schwärzlichen Menschenhaufen. Langsam glitten die Gestalten durcheinander, die einen gingen, andere kamen paarweis’ und trugen auf Stangen eine regungslose Last herbei.

Die Leute erblickten den Mönch, und das dumpfe Gesumm der Stimmen erlosch. In der dunklen Schar sah Eberwein plötzlich all’ die weißen Gesichter. Einige Männer und Weiber schienen willens, ihm entgegenzulaufen; auf halbem Weg aber hielteu sie inne und standen regungslos. Auch Eberweins Schritte stockten: ihn befiel die Ahnung dessen, was er sehen sollte. Doch nur einen Augenblick versagten ihm die Kräfte. Bleich, mit kämpfendem Atem, eilte er den Harrenden entgegen. Kein lautes Wort vernahm er, kaum einen schluchzenden Laut. Doch hundert Arme streckten sich ihm entgegen in flehendem Jammer, als wäre bei ihm die Hilfe, bei ihm der Trost. Hundert Augen, gerötet von Staub und Weinen, hingen an seinen Lippen, als könnte ein einziges Wort des gottgeweihten Mannes alle Schmerzen lösen. Die Männer faßten nach seinen Händen, die Weiber griffen nach seinem Kleid und hoben ihm ihre Kinder entgegen, als läge im Blick seiner Augen die Kraft, zu feien wider alle Not und Gefahr.

Wortlos, erschüttert in jedem Nerv seines Lebens, stand Eberwein inmitten dieses namenlosen Jammers – zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde!

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.



Das Haus Fritz Reuters. Fast zwanzig Jahre nach ihrem Gatten ist am 9. Juni Luise Reuter, die Witwe Fritz Reuters, zur ewigen Ruhe eingegangen. „Sie hat im Leben Liebe gesät, sie soll im Tode Liebe ernten“, so lautet die Grabschrift, die ihr Fritz Reuter selbst einmal in schmerzlich bewegter Stunde bestimmte, und schöner hätte ihres Daseins Inhalt nicht umschrieben werden können. Wie sie zu Lebzeiten ihres Mannes dessen treueste und hingebendste Pflegerin war, so blieb sie nach seinem Tod die edle nimmermüde Wohlthäterin der Armen und Bedrückten. Ein hochherziger und zugleich überaus sinniger Gedanke war es, daß sie ihr Haus testamentarisch der Deutschen Schillerstiftung überwies. Das Heim, das eines Dichters Feder gegründet, sollte für alle Zeiten Deutschlands Dichtern gehören, das ist die schöne Bedeutung dieses Vermächtnisses.

Für Fritz Reuter war es eine große Freude, daß die Erfolge seiner Schriften ihm den Bau dieses Hauses ermöglichten. Die „Gartenlaube“ hat vor einigen Jahren (1890) Briefe des Dichters veröffentlicht, aus denen hervorgeht, mit welcher Wärme und innerer Genugthuung er den Bau seines Hauses in Eisenach betrieb. „Wir träumen hier allerlei Idyllen,“ schreibt er am 11. September 1866 an seinen vertrauten Freund Fritz Peters, „denn unser Hausbau hat insofern begonnen, als wir dabei sind, die Felsen, die im Wege liegen, zu sprengen, was viel Arbeit, aber auch Baumaterial schafft. Den Plan zu dem Hause habe ich mir von dem Professor Bohnstedt, einem Architekten aus Petersburg, machen lassen, sehr zur Zufriedenheit.“ In ausführlicher Schilderung entwickelt er dem Freunde dann diesen Plan bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, um befriedigt zu dem Schlusse zu kommen: „Du siehst, es kann hübsch werden, und da ich – Gott sei Dank – noch immer Glück mit meiner Schreiberei habe, so werde ich auch mit dem Kostenpunkt fertig werden, ohne genötigt zu sein, von meinen angelegten Geldern etwas aufzunehmen.“ Freilich, auch die Leiden und Sorgen eines Bauherrn blieben Reuter nicht erspart, und gerade die Kostenfrage stellte sich nicht so glatt, wie er es anfangs geglaubt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_483.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2021)