Seite:Die Gartenlaube (1894) 474.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Aus dem Lande der Kanäle.

Niederländische Bilder von Herbert Franz.

Niet rooken!“ – Das waren die ersten holländischen Worte, welche bald hinter Zevenaar an mein erstauntes Ohr drangen. Ein Schaffner, der in der behaglichen Ruhe seines Wesens recht charakteristisch sich abhob von der geschäftigen Schneidigkeit, mit der bei uns zu Lande diese Beamten auftreten, sprach die denkwürdigen Worte aus, und er erläuterte sie durch den Hinweis auf die im Eisenbahnwagen befindliche Papptafel, auf der es noch außerdem in drei Sprachen prangte, das internationale Rauchverbot. Seufzend mußten wir uns drein ergeben: die Cigarren und Cigaretten, während der langweiligen Zollmusterung erst ganz kürzlich in Brand gesetzt, flogen hinaus zum Fenster auf die halb von Nebelschleiern verhüllten Wiesen. Es war im Spätherbst und empfindlich kühl; aus den behaglich durchwärmten Wagen des deutschen Zuges waren wir plötzlich in die recht kalten des niederdländischen geraten, deren Fußboden lange schmale Wärmflaschen, sogenannte „stoovjes“, zierten, an denen man sich nun zunächst die Stiefelsohlen versengte. Die Stimmung wurde dadurch nicht eben gehoben, und in der unangenehmen Verfassung, die sich im Laufe einer längeren Eisenbahnfahrt unweigerlich einzustellen pflegt, war man geneigt, in dem fremden Lande alles schlecht und abscheulich zu finden und sich zurückzusehnen nach den leichtsinnig verlassenen Fleischtöpfen der Heimat. Warum waren wir auch nicht wenigstens einen Tag länger in dem lieblichen Cleve mit seiner romantischen Schwanenburg und den sagenhaften Erinnerungen an die Römerzeit und den Gralsboten Lohengrin geblieben? Warum? Ja, weil man eben heute überhaupt nie und nirgends mehr Zeit hat oder sich nimmt, einen Eindruck behaglich zu genießen, weil immer im unrechten Augenblick der Kurierzug wartet, um einen fortzuführen, wenn man eben heimisch zu werden beginnt!

Aber fort mit den melancholischen Gedanken, eben fährt der Zug in Armheim ein. Viele Lichter, ein lebhaftes Treiben in den Straßen – mehr ist augenblicklich nicht zu entdecken. Erst bei einem späteren Aufenthalt habe ich die reiche Stadt – das „Goldene Arnheim“ nennt man sie gern – einigermaßen kennengelernt. Man hat Arnheim oft mit unserem Wiesbaden verglichen, weil Pensionäre und Rentiers sich mit Vorliebe in dieser Villenstadt zur Ruhe setzen, außer diesem einen Umstand aber bieten sich kaum Vergleichspunkte. Trotz der anmutigen Lage am Rhein ist die Umgegend nicht sonderlich reizvoll und am allerwenigsten kann sie sich messen mit den überreichen landschaftlichen Vorzügen der Weltkurstadt am Taunus. Seltsamerweise hört man in Arnheim fast ebensoviel deutsch sprechen wie in Wiesbaden holländisch, während man in den meisten übrigen Städten der Niederlande eher noch mit dem Französischen sich durchzuhelfen vermag als mit der eigenen Muttersprache.

Die erste große Stadt des Königreiches, welche ich kennenlernte, war Amsterdam, und von allen erscheint sie mir noch heute als die schönste und eigenartigste. Wohl ist der Haag („s’Gravenhage“ lautet der amtliche Name der Residenz) vornehmer, schöner gebaut, und die mächtige Allee, die nach dem berühmten Seebad Scheveningen führt, findet kaum irgendwo ihresgleichen; wohl heimelt Rotterdam mit seinem gewaltigen Handel, seinem überseeischen Schiffsverkehr den Deutschen zunächst mehr an, aber schließlich nimmt man doch die fesselndsten Eindrücke mit aus der Stadt Rembrandts und Spinozas, in welcher die eigentlich holländische Lebensart zum reinsten Ausdruck kommt, trotz der Unzahl von Fremden aus aller Herren Ländern, die man dort überall antrifft.

Ein ernsthafter und gediegener Menschenschlag ist es, der in den Niederlanden haust; auferzogen in beständiger Nachbarschaft des Meeres, oft zum hartnäckigen Kampf mit dem empörten Element gezwungen, hat der Holländer eine zähe, stille Art angenommen, die dem oberflächlichen Blick leicht als Phlegma oder Gleichgültigkeit erscheint. Wer länger im Lande verweilt und Gelegenheit hat, Bekanntschaften in den gebildeten Ständen anzuknüpfen, der kommt bald von diesem Irrwahn zurück. Freilich ist dem Holländer das lebhafte Temperament, die reiche Phantasie und die unerschöpfliche Unterhaltungsgabe der Romanen versagt; selbst im Vergleich zu den stammverwandten Hochdeutschen giebt er sich schwerfällig, und nach langem Ueberlegen erst äußert er eine Ansicht oder ein Urteil. Die Vorzüge aber dieser Fehler, wofern es solche sind, eignen dem Niederländer in vollstem Maße: ein unermüdlicher Arbeiter ist er, und wen er einmal liebgewonnen hat, der mag auf ihn bauen in jeglicher Fährlichkeit. Nicht leicht wird einem der Eintritt in die engen Wohnhäuser gemacht; ist man aber einmal über die steile Stiege emporgeklettert in das reiche Familiengemach, so wird man eine Bewirtung und Aufnahme finden, wie sie so gastlich nur selten sich einstellt.

Die Tageseinteilung entspricht ungefähr der in England üblichen, mit dem Unterschied, daß der Tag viel später beginnt und dementsprechend später schließt. Nach elf Uhr abends findet man in Amsterdam noch die meisten kleinen Geschäfte geöffnet, von Zeit zu Zeit klappert wohl auch noch ein verspätetes Dienstmädchen in bauchigen Holzschuhen, mit bloßen Armen und der bekannten malerischen Haube, über die Straße, um beim benachbarten Fleischer („vleeshouwer“) den stattlichen Bedarf für den kommenden Tag einzuholen. Die öffentlichen Lokale, in denen übrigens Damen seltene Erscheinungen bilden, bleiben fast ausnahmslos bis zwei Uhr nachts geöffnet, und ebenso lange fast herrscht in den Straßen ein lebhaftes Treiben. Nicht allzu selten schließen ja die Theater erst gegen Mitternacht. Unter diesen Verhältnissen ist es nur natürlich, wenn der Tag erst um neun Uhr morgens beginnt. Eine tüchtige Mahlzeit aus Kakao oder Thee, Eiern und den landesüblichen „beshuiten“ (einer Art runden Zwiebacks) dient als Grundlage; zwischen zwölf und eins folgt dann ein umständliches Frühstück und etwa um sechs Uhr die Hauptmahlzeit. Vorher aber und auch wohl nachher wird beinahe unaufhörlich Thee getrunken, und zwar in gleichmäßig unheimlicher Menge und Güte. Es ist unglaublich, wieviel von dem starken, schwarzen Trank die Holländer und besonders auch die Holländerinnen bewältigen können, wenn auch allerdings das eigentümlich feuchtkühle Klima eine beständige Zuführung wärmender Getränke beinahe zur Notwendigkeit macht. Dadurch erklärt sich auch der sehr beträchtliche Bedarf an Spirituosen, in den großen Kaffeehäusern sitzen die schweigsamen Männer meist vor einem kleinen Gläschen Genever, Cognac oder Wermut, welches in angemessenen Zwischenräumen neu gefüllt zu werden pflegt, oder sie schlürfen bedächtig ein Glas kalten Grogs. Obwohl es nicht an echten und „stilvoll“ nach deutschem Muster eingerichteten Bierstuben fehlt, spielt der Gerstensaft doch nicht annähernd die wichtige Rolle im täglichen Leben der Holländer wie bei uns; nirgends aber habe ich eine so reichhaltige Auswahl von Liqueuren und alkoholischen Trankmischungen angetroffen. Dabei ist der Niederländer von Natur ein mäßiger Mensch, der meist ganz genau weiß, was er vertragen kann.

Die holländische Küche verdiente ein eigenes Kapitel. Viele Deutsche, die in der Fremde immer nur den einheimischen Maßstab anlegen und tief unglücklich sind, wenn sie nicht überall Eisbein und Sauerkohl zu essen bekommen, habe ich wacker schelten hören auf die fette und überkräftige Speisenbereitung, die allerdings unserem Geschmack zunächst wenig zusagt. Abgesehen aber davon, daß man in allen besseren Gasthöfen und Wirtshäusern gut und schmackhaft ißt, hat auch die häusliche Küche zwei nicht zu unterschätzende Vorzüge: ausgezeichnetes Fleisch und prächtige, selbst im Winter frische Gemüse, unter denen als bevorzugtes Nationalgericht unser Rosenkohl („spruitjes“) am häufigsten auf den Tisch kommt.

Es mag auffällig erscheinen, daß hier zunächst von den materiellen Lebensbedingungen die Rede war, aber der Niederländer ist, wie es zu allen Zeiten auch seine Künstler waren, in erster Linie Realist, er liebt sein häusliches Behagen und giebt nur ungern und selten den festen Boden des realen Lebens auf. Der hohe Flug der Phantasie ist dem Holländer nicht gegeben, ein vorwiegend praktischer Nützlichkeitssinn erfüllt das Volk der wasserreichen Ebene. Eines aber hat es sich in allen Zeiten seiner wechselvollen Landesgeschichte zu erhalten gewußt: die volle, uneingeschränkte Freiheit des Gewissens. Als sich der Abfall der Niederlande von dem damals übermächtigen Spanien vollzog, den Schiller so glücklich mit dem Satze kennzeichnet: … „Dieser Krieg, der einem friedfertigen Volk ein vorübergehendes Heldentum aufnötigte“, da galt es, in erster Reihe der religiösen Unduldsamkeit ein Ende zu bereiten und die Henkersknechte der spanischen Inquisition

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_474.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2021)