Seite:Die Gartenlaube (1894) 471.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Stimme, was ihm das Blut zum Herzen drängte, etwas von einem Verzicht auf ein schönes Geschenk.

„Für mich, Hermann? Du?“ Thränen traten ihr in die Augen. Ein kurzes Aufschluchzen, dann eilte sie an ihm vorüber zur Thüre hinaus, als fürchtete sie seine Gegenwart.

Er blieb unbeweglich stehen, ein abscheulich dumpfes Gefühl im Kopf. Was hatte sie nur? „Ja, für Dein Glück, Lore! Alles, alles für Dich und Dein Glück! – Glück, was heißt Glück?“ Er setzte seine Wanderung durch das Zimmer wieder fort. „Ich muß mich doch getäuscht haben auf dem Lehrter Bahnhof,“ murmelte er leise. „Und doch! Es war sein Gang, seine Haltung, seine Art, den Hut weit zurück zu setzen. Ein grauer moderner Hut mit auffallend breitem schwarzen Bande. Unsinn! Die Lore sagt, er sei in Paris geblieben. Dann würde er auf dem nächsten Wege hierher reisen. Und die Dame, die er führte, eine schöne Person in unglaublich eleganter Kleidung? Das konnte ich noch sehen, als der Zug die Bahnhofshalle verließ, während der betreffende Herr mir den Rücken zuwandte.“ –

Am andern Morgen kam Bruno an, ohne vorherige Anmeldung. Er liebte das nicht, in dem Wunsche, sich stets ungebunden zu fühlen. Hermann stand in seinem Schlafzimmer am Fenster, noch mit dem Ankleiden beschäftigt, und sah den Bruder aus dem Mietwagen steigen. Es war ziemlich früh und Lore wahrscheinlich noch nicht aufgestanden. Sein Blick verfolgte die Gestalt des die Treppe Hinaufeilenden. Er sah nichts als den grauen Hut mit schwarzem Bande und den hechtgrauen langen Mantel – genau wie der Fremde auf dem Lehrter Bahnhof! Merkwürdig! Aber vielleicht hatte Bruno den Umweg über Berlin gemacht, um dort eine Wohnung zu suchen. Und die Dame? Wohl eine Bekannte! Er lächelte über seine Logik. Natürlich, eine Bekammte! Sonst würde Bruno sie doch nicht am Arme geführt haben. – Er stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf, weil er den goldenen Knopf nicht durch die gestärkte Manschette bringen konnte.

Ueber ihm war Lores Zimmer. Er hörte den Bruder die Treppe hinaufeilen, die Thüre sich öffnen und schließen, einen leichten Schrei der Verwunderung und Freude, dann undeutliches Gemurmel zweier Stimmen.

Jetzt, jetzt legte sie die Arme um seinen Hals!

Hermann riß das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Ihm war so heiß, und wohlthätig empfand er die eiskalte Winterluft an Wangen und Schläfen. Nach einer Weile ging er ins Eßzimmer und fand Vater und Geschwister am Frühstückstisch.

„Guten Tag, Bruno! Ich sah Dich ankommen.“ Er ging eilig auf den Bruder zu; ein Schimmer seiner einstigen schwärmerischen Kinderliebe zu Bruno ging über seine ernsten Züge.

„Guten Tag, Hermann!“ Es klang etwas frostig. „Wie ich höre, bist Du unter die Streber gegangen und büffelst auf der Akademie. Na, da werden wir uns ja oft sehen in Berlin. Du weißt es schon, nicht wahr, daß auch wir da sein werden? Teufel! Ist das kalt heute!“ Er hielt die Hände an die warmen Kacheln des Ofens.

„Früh um sechs Uhr hatten wir zehn Grad,“ meinte der alte Weßnitz, über seine Zeitung hinweg seinem Aeltesten den Morgengruß zunickend.

„Du kommst geradeswegs aus Paris? Ich bin auch erst gestern hier eingetroffen,“ warf Hermann hin und ließ sich von Lore eine Tasse Kaffee einschenken.

Bruno wandte sich kurz um. „Nicht ganz geradeswegs – ich war vierundzwanzig Stunden in Berlin, um eine Wohnung zu suchen.“

„Davon hast Du mir noch nichts gesagt!“ Lore blickte erstaunt auf.

Bruno lachte sorglos und trat dicht an ihre Seite. „Brauchen die Frauen denn alles in den ersten Minuten des Wiedersehens zu wissen? Als guter Familienvater sorgte ich für das Nächstliegende. In vierzehn Tagen muß ich meinen Posten antreten, vorläufig habe ich einige Wohnungspläne mitgebracht. Uebrigens, Hermann, Du bist wohl gestern morgen halb zehn Uhr aus Berlin abgefahren?“

Es lag eine gewisse Spannung in dem Ton seiner Stimme, trotzdem er völlig gleichgültig schien und mit der Rechten nachlässig in der Brusttasche seines Rockes umhersuchte.

„Ja. Neun Uhr fünfundzwanzig Minuten,“ antwortete Hermann.

„So! – Aha, hier sind die Pläne! Eine reizende Wohnung in der Tiergartenstraße. ich sage Dir, Lore, ein Boudoir, ein Schmollwinkel mit Butzenscheiben! Unwillkürlich stand mir in der Phantasie Dein liebes Bild vor Augen. Das Zimmer liegt nach Westen, also Abendsonne. Dein Haar in der glutroten untergehenden Abendsonne, Lore, und dazu Dein lichtblaues Pariser Negligee ...“

Er faßte sie unter das Kinn und blickte ihr in die Augen. Sie war rot geworden. „Schmeichler!“ rief sie, mit dem Finger drohend, aber ein seliges Lächeln ging über ihr Gesicht.

Ein Stuhl ward heftig zurückgeschoben. „Ich vergaß meine Uhr im Schlafzimmer,“ sagte Hermann und ging hinaus.

„Er ist doch ein steifer langweiliger Philister geblieben,“ meinte Bruno, sich eine Cigarre anzündend.

„Weiß nicht,“ erwiderte Lore. „Mag sein – aber es giebt keinen so zuverlässigen Menschen sonst auf der Welt.“

„So? Und wo bleibe ich denn, Lore?“ rief Bruno. Sie sah ihn an, ohne zu antworten. Er faltete nervös das Zeitungsblatt zusammen, das vor ihm lag. Die Frau hat sich eine abscheuliche Art angewöhnt, mich anzusehen! dachte er. – –

„Du hast mich gestern auf dem Lehrter Bahnhof gesehen, Hermann?“ fragte Bruno diesen am Abend, als sie allein waren.

„Ja.“

„Mit jener Dame?“

„Ja!“ Hermann trommelte scheinbar gleichmütig mit den Fingern auf der Tischplatte.

Bruno fühlte sich gereizt. „Zum mindesten war es nicht sehr kavaliermäßig, mich heute morgen so in die Enge zu treiben. Du konntest doch warten, bis ich selbst anfing, davon zu sprechen.“

„Wolltest Du es geheim halten?“

„Welche Frage! Ich wußte nicht, ob Du meiner Frau erzählt hattest, daß Du mich in Begleitung einer Dame gesehen. Frauen sind eifersüchtig, wittern überall etwas, und besonders Lore ist ein weiblicher Othello. Mein Gott, eine unschuldige Bekanntschaft! Eine Pariser Sängerin, der ich meinen Reiseschutz nach Berlin angeboten, weiter nichts!“

„Ich habe auch keine Vermutungen angestellt,“ meinte Hermann nachlässig. Bruno stampfte leise mit dem Fuße auf. In diesem Augenblick kam Lore mit ihrem Jungen ins Zimmer. –

In den nächsten Tagen vermieden es die Brüder, allein miteinander zu sein. Besonders Bruno verschloß sich gegen Hermann immer mehr, und dieser verstand das Gefühl, das jenen trieb. War er doch dem Bruder stets eine lebendige Erinnerung an jenen achtzehnten August! Welcher Mann könnte den Umgang desjenigen ertragen, der ihn im schwächsten Augenblick seines Lebens erblickte, der die Wunde offen sah, die jetzt kaum vernarbt war!

Lore aber zermarterte sich den Kopf über dies Verhalten der beiden. Sie fühlte die Spannung heraus. Wie verschieden die beiden Brüder waren! Das äußerte sich in jedem gemeinsamen Gespräch, mochte es sich nun um Politik oder um diese oder jene allgemeinen Lebensanschauungen handeln. Hermann starr und fest, mit keinem Blick nach rechts oder links vom geraden Wege abweichend, durch und durch preußischer Offizier, erfüllt von den „verbrieften“ Rechten und Pflichten des Adels. Bruno leichtlebig, abgeschliffen in der großen Welt, klug, geistvoll, aber schmiegsam in seiner Meinung, jedes Extrem vermeidend, eine gewisse Gleichgültigkeit gegen alles in seinem ganzen Denken.

*  *  *

„Zum erstenmal in meinem Heim!“ rief Lore aufspringend, während sie mit der ihr eigentümlichen anmutigen Bewegung dem Schwager beide Hände entgegenstreckte. Hermann, der eben ins Zimmer getreten war, beugte sich über ihre Hände und hob dann den kleinen Edgar empor, der an seinen Knien emporstrebte. „Wie schwer der Junge ist!“ rief er, wie in Verlegenheit.

„Ja, das Kerlchen wächst riesig.“ Sie drückte den blonden Kopf des Kindes an sich und strich ihm liebkosend über das Haar.

Ein schönes Bild: die hübsche Frau, das weiche zarte Gesicht herabgebeugt zu dem Knaben, der sich verlegen in den Falten ihres Kleides zu verstecken suchte. Mutterglück – Menschenglück! Eine ganze Welt von Glück in diesem Bilde. Hermann konnte sich an dem lieblichen Anblick nicht satt sehen. Ja, er liebte diese Frau noch immer, aber die Leidenschaft, das Begehren des heißen Jünglingsherzens war durch Zeit und Selbstbeherrschung erloschen; auch schien sie so glücklich, so zufrieden in ihrer Mutterfreude, in der traulichen Umgebung ihres eigenen Heims.

„Es ist hübsch hier bei Euch, sehr hübsch. Ist Bruno zu Hause?“

„Er ist zu einem Essen eingeladen. Aber nimm Platz! Dort,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_471.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2021)