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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Und nun ist das ganz anders gekommen,“ fuhr Lore fort. „Zuweilen wünsche ich, daß Bruno ruhiger, ernster wäre, aber er ist jetzt noch nervös von seiner Verwundung. Gestern legte er seinen Kopf in meinen Schoß und redete allerlei wunderbare Sachen: er sei meiner Liebe nicht wert, sei ein Schwächling, ich müsse Nachsicht mit ihm haben und ihm beistehen, ein starker Mann zu werden. Ich lachte ihn aus. Dann sah ich, daß er Thränen in den Augen hatte, und er schante mich so flehend an, daß ich selbst etwas die Fassung verlor. ‚Würdest Du mich auch lieben, wenn ich irgend etwas thäte, was gemein wäre, Lore?‘ rief er plötzlich. ‚Das ist unmöglich!‘ erwiderte ich und küßte ihn. Er riß sich los von mir und ging stumm hinaus. Er muß doch noch sehr leidend sein.“

„Ja, das ist er noch. Du mußt ihn sehr lieb haben, Lore.“

Dann fragte sie, die Hand fest auf Hermanns Schulter legend: „Nicht wahr, wenn ich für ihn und für mich einen Freund, einen Bruder brauche, Dich finde ich immer?“

„Ja, immer!“ Langsam ließ Hermann ein Knäuel Garn aus seiner Mutter Arbeitskorb durch die Finger gleiten. „Weißt Du noch, Lore, wie Du immer zum Geburtstag ein ‚Wunderknäuel‘ bekamst?“ fragte er dann.

Sie nickte lebhaft und das alte liebe Kindergesicht verdrängte den Ernst aus ihren Zügen. „O ja! Man konnte es nicht erwarten, was hinter dem Garn versteckt wäre, und wickelte heimlich das ganze Knäuel auf.“

„Ja, Lore! Und fand immer schönere Sachen darin. So geht es nicht im Leben. Man wickelt und wickelt und findet vielleicht schließlich eine hohle Nuß. Ich wollte, ich könnte noch einmal wieder ein solches Wunderknäuel bekommen.“

Sie schaute ihn sinnend an und wiegte den feinen Kopf hin und her, dann sagte sie plötzlich, ihm beide Hände hinstreckend: „Ich kenne doch keinen Menschen, den ich so lieb hätte wie Dich.“

Hastig war er aufgesprungen. Ein heißer Blick aus seinen Augen, der über sie hinirrte, warmes quellendes Blut, das ihm im Herzen pochte! Doch nur einen Augenblick. Er lächelte, konnte lächeln und verstand selbst nicht, wie er es konnte.

„Und Bruno?“

Sie wurde rot. „O, das ist ja ganz anders, ganz anders, weißt Du. Ich zittere oft, wenn er mich küßt. Er ist so leidenschaftlich!“

Wie unbefangen sie das herausgeplaudert hatte!

Am nächsten Tage war Hermann abgereist. Bruno hatte ihr also doch nichts gesagt! Dazu war er wieder zu – – o, nein, nein, vielleicht that er es noch, wenn der Bruder fort war!

Hermann kämpfte gegen seine Liebe, er fand ein grausames Behagen daran, sich selbst zu bezwingen, die widerspenstigen Wünsche und Gedanken zu unterdrücken, aber dieser Kampf machte ihn ernst und alt.




„Wie ich mich frene, Dich wiederzusehen!“

Wenige schlichte Worte, doch wie viel uneingestandene Sehnsucht lag darin! Das sagten ihre Augen, diese lichtbraunen Augen, und das leise Zittern der frauenhaften weichen Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

Ja, sie war schön, die Lore von Weßnitz, noch schöner, als sie einst zu werden versprochen hatte. Ihre Gestalt hatte sich aus den jungfräulichen Formen zur vollen Weiblichkeit entfaltet, ohne die Grenzen der Schlankheit zu überschreiten, nur das Gesicht, das feine kluge Gesicht war dasselbe geblieben, wenn auch etwas mehr von dem Selbstbewußaein der eigenen Persönlichkeit darin lag.

Hermann hatte ihre Hand an die Lippen geführt.

„So lange nicht gesehen! Warte,“ sie zählte an den schlanken Fingern, „ein, zwei, drei Jahre nicht!“

„Ja,“ meinte Hermann, immer noch ihre Hand in der seinen haltend, „drei Jahre nicht!“ Er wunderte sich, daß in drei Jahren ein Mensch so viel schöner werden konnte. „Wie geht es Bruno?“

„Danke – gut wie immer. Er wird erst in einigen Tagen hierherkommen, weil ihn noch seine diplomatischen Geschäfte in Paris fesseln. Ich hielt es nicht aus, die Sehnsucht nach dem lieben alten Weßnitz hatte mich gepackt, und so reiste ich mit meinem Kinde voraus. Freilich, die Mutter“ – sie strich langsam mit der Hand einige Falten aus dem schwarzen Seidenkleid. „Sie war für mich wie eine wirkliche Mutter, nun ist sie schon seit zwei Jahren tot.“

Er nickte stumm.

„Du kannst Dir denken, Hermann, wie unglücklich ich war – willst Du Dich nicht gemütlich hinsetzen? – aber mein Kleiner war kurz vorher zur Welt gekommen, und die Aerzte verboten mir die Reise. Auch Vrnno litt es nicht, obgleich er selbst unmöglich kommen konnte. Schließlich gab ich nach, eine Mutter gehört doch den Lebenden und nicht den Toten.“

Wie einfach sie das sagte! Das war keine Redensart, das war selbst gedacht, empfunden – ein Aussprechen ohne die geringste Scheu, mißverstanden zu werden.

„Ist es nicht herrlich“, fuhr sie fort, „daß wir nun nach Berlin kommen? Bruno scheint rasch vorwärts zu gelangen. Freilich, ihm wird der Abschied vom Pariser Leben etwas schwer, seine Stellung bei der deutschen Gesandtschaft dort war sehr angenehm, und dann – er findet Berlin so philisterhaft. Ich freue mich riesig! Eine schlechte Gattin, nicht wahr? Besonders freue ich mich, weil Du gerade jetzt nach Berlin kommandiert bist.“

„Ihr nach Berlin?“ Hermann sprang wieder auf und blickte sie fast erschrocken an. „Der Vater sagte mir noch nichts davon.“

„Er hat es wohl beim Empfang auf dem Bahnhof in der Wiedersehensfreude vergessen.“

Hermann fühlte, daß er etwas erwidern mußte; sie sah ihn so forschend an bei den letzten Worten. „O, ich freue mich sehr, unendlich darüber; es wird ein gemütliches Zusammenleben werden.“

Lore schüttelte leise den Kopf und begann zu lachen. „Wir wollen es hoffen. Weißt Du, Bruno ist ein schrecklich unruhiger Mensch. Es ist ja durch seine Stellung bedingt, daß wir uns der Geselligkeit nicht entziehen können, obgleich es nicht mein Geschmack ist. Schließlich lernt man alles! In Paris ist er oft einen Monat lang keinen Abend ruhig mit mir zusammen gewesen, immer Gäste oder auswärts Bälle, Gesellschaften, Aufführungen. Oder er hatte Klubverpflichtungen und dergleichen. Er wird von allen verzogen, auch von den Frauen.“ Sie versnchte bei diesen Worten harmlos zu lächeln. „Das legt Verpflichtungen auf. Vielleicht werden wir in Berlin etwas stiller leben. – A propos, Du hattest soeben eine Unterredung mit dem Vater. Wie geht es ihm heute?“

„Er ist alt geworden, seit die Mutter starb, und sieht alles grau in grau.“

Lore schaute auf. Mit einem eigentümlich gespannten Ausdruck in den Augen folgte sie der im Zimmer auf und ab wandelnden Gestalt des Schwagers.

„Du – Hermann!“

Er blieb vor ihr stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

„Ich muß Dich etwas fragen. Ich glaube, Bruno hat sehr viel Geld gebraucht, obgleich ich überall zu sparen suchte. Besitzt er überhaupt so viel? Er hat niemals mit mir davon gesprochen.“

„Wir haben jeder das Erbteil unserer Mutter, fünfzigtausend Mark. Es ist nicht sehr viel, aber für mich reicht es aus, und das Gut bringt auch etwas ein, da der Vater so einfach lebt.“

„Dann haben wir vom Kapital gelebt?“

„Ja, das ist nicht anders möglich, Lore, bei dem Beruf Deines Mannes.“

„Und was das Gut einbringt?“

„Das ist es, worin Vater so sonderbar ist. Er will das zwischen uns teilen. Ein Unsinn! Ich habe keine Bedürfnisse. Mach’ Dir also keine Sorgen, wenn der Vater auch behauptet, es ginge so nicht fort, Ihr müßtet Euch mehr einschränken.“

Er bemerkte, daß ihre Augen den gespannten, fast verängstigten Ausdruck nicht verloren. „Laß nur, Lore, mach’ Dir keine Sorgen!“ wiederholte er noch einmal.

„Aber das Geld gehört eigentlich Dir?“

„Eben deshalb kann es verbraucht werden, wie ich es wünsche. Ich heirate ja doch nie, und Weßnitz fällt Euch zu oder Euren Kindern. Ich habe den Vater gebeten, meinen Anteil nicht zu berücksichtigen.“

„Für wen thust Du das, Hermann? Für Bruno? Er ist so sorglos, das weiß ich, und Du bist zu jung, um auf alles zu verzichten.“

„Für wen?“ fragte er langsam und blickte sie sekundenlang an, um sich dann rasch abzuwenden.

Hatte sie ihn verstanden? Ahnte die Frau mit Blitzesschnelle, was das Mädchen nie verstehen konnte?

„Hermann!“ rief sie und fuhr hastig vom Sessel empor.

Auch er zuckte zusammen. Es lag etwas im Ton ihrer

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