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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Zu ihr!“ Doch seine schreiende Stimme erstickte der dumpfe Donner, der ihn umrollte. In Qual und Verzweiflung riß er mit den Händen am Gestein und zerrte an dem wirren, von Schnee und Geröll durchsetzten Astwerk, welches den Ausgang der Höhle verschloß. Da begann der Steingrund unter seinen Füßen sich zu bewegen gleich einer Wiege, und aus der Tiefe des Berges kam ein Klang, der mit Messerschärfe in Sigenots Ohren fuhr. Jähe Helle fiel ihm in die Augen, und langsam wichen vor ihm die Felsen auseinander wie die Flügel eines Thores. Aufschreiend that er einen Sprung ins Freie, doch eh’ er noch wußte, wo er stand und wohin er sich wenden sollte, verging ihm Hören und Sehen. Eine Schneewelle hob ihn empor, spülte ihn aufwärts gegen die höhere Schlucht, und während er zwischen Gestein und Schnee bewußtlos lag, fuhr ein Riß, bei der die Schlucht durchquerenden Spalte beginnend, über die kahlen Felsen hinauf, und die vom Stock des Berges losgetrennte Steinwand neigte sich vornüber. Donnernd stürzten die gewaltigen Massen über den See. Ihr Fall zerteilte die Flut, zwei weiße Wassermauern hoben sich turmhoch auseinander, und während die eine zur Linken in den Kessel der Berge rollte, wälzte sich die andere zur Rechten gegen das Thal der Ache. Mit Schäumen und Brausen wuchs und stieg die laufende Mauer noch, je mehr das Seethal sich verengte, und auf ihrem Wege spülte die riesige Welle den Wald vom Berghang weg wie einen Haufen Späne ...

Im Fischerhause hatten sie den Donner des fallenden Gesteins vernommen. Sie sahen über dem Kessel des Weitsees eine Wolke dampfen und hörten das Sausen und Rauschen des kommenden Wassers. Die Magd stand vor der Hausthür und rang die Hände, bleich und zitternd kam Kaganhart, die Leiche seines Weibes verlassend, aus der Kammer des Knechtes gerannt, und Wicho stand auf dem Lugaus, mit verstörtem Gesicht, die Finger in das Haar geklammert. Immer näher kam das Toben und Brausen; ein sausender Wind, weißen Schaum in die Lüfte peitschend, flog über den See einher, und die turmhohe rollende Wassermauer tauchte um die Falkenwand, auf der einen Seite den steigenden Bergwald mit Fluten überschüttend, auf der anderen Seite ihre Springwellen emporschleudernd bis zu der um Wazemanns Haus gezogenen Ringmauer.

Das Geschrei der Mägde und die heulenden Stimmen der gefangenen Raubtiere tönten vom Falkenstein hernieder, während Heilwig und Kaganhart in rasender Hast über die Lände gegen den waidigen Berghang flüchteten. Wicho sprang vom Lugaus nieder und stürzte in das Haus. „Mutter Mahtilt! Mutter Mahtilt!“ Schrill klang seine Stimme; doch andere Worte brachte er nicht mehr über die Lippen, er lallte nur und deutete mit den Armen. Starr sah ihm das bleiche Gesicht der Greisin entgegen. Er wollte sie umschlingen, aber sie wehrte sich und lachte, mit beiden Händen sich anklammernd an die Lehnen ihres Sessels. Gewaltsam riß er sie empor und hob sie auf die Arme, und während er keuchend mit seiner Last die Thüre suchte, streckte Mutter Mahalt unter gellendem Gelächter noch die Hände nach dem Herd. Wohl erreichte Wicho das Freie. Doch über die Lände wälzte sich schon, doppelt so hoch als der Hügel mit dem Haus des Fischers, der bransende Wasserberg heran, mächtige Felsblöcke wie leichte Kiesel vor sich herschwemmend und einen Wust von gebrochenen Bäumen ausschleudernd nach allen Seiten.

Wichos Knie versagten, zitternd stand er und klammerte die Arme um die Mutter seines Herrn, während in das Brausen der stürzenden Flut das Gebrüll der Rinder sich machte, die zwischen den Wänden ihres Stalles die Nähe einer Gefahr erkannten. Kalkige Blässe deckte das Gesicht des Knechtes, doch über Mutter Mahtilts bleiche Züge ging es wie ein Leuchten. Sie hob die Arme, und mit heller Stimme klang es von ihren Lippen. „Gelfrat! Gelfrat!“ Die Nähe des Todes hatte ihre stumme Zunge gelöst. Noch einmal rief sie den Namen des geliebten Mannes, den ihr der See genommen, und streckte die Hände den anrauschenden Wellen entgegen. Brausend stürzte sich die Wassermauer über den Hügel hin – ein Krachen und Dröhnen von brechendem Gebälk – und die tobende Flut verschlang, was Sigenots Hag umschlossen hatte.

Immer weiter wälzte sich die zerstörende Riesenwelle, und ihr Rauschen quoll über das Thal hinaus und fand das Ohr der Menschen, welche in bleichem Schreck aus ihren Hütten rannten. Thal auf und nieder flog das Gespenst der Furcht und faßte alle Gemüter. Aus der stundenlangen Waldschlucht hervor, in welcher die Schmiede des Ilsankers lag, bis zu den Halden der Strub hin hörte man schon das ferne Brausen der Gewässer, welche die Ramsau überschwemmten. An den Wänden des Untersberges erwachte ein summendes Echo, während vom König Eismann über den Gadem einher ein leises Brummen, bald stockend, bald wieder anschwellend, bis zum Lokiwald durch die Lüfte quoll.

Bruder Wampo trat aus der Klause und blickte nach allen Seiten. Schweiker, das Beil in der Hand, kam zögernd vom Waldsaum herangeschritten.

„Was ist denn schon wieder?“ fragte Wampo. „Hörst denn nicht?“

„Wohl wohl!“ nickte Schweiker und blieb lauschend stehen. „Es kann doch kein Unwetter aufziehen! Ist ja der ganze Himmel blau!“ Bruder Wampo verstummte, denn er sah, daß Pater Waldram aus der Kirche trat, gegürtet und mit dem Stab in der Hand. Erst machte der Bruder erstaunte Augen, dann eilte er auf den Pater zu. „Herr?“ Waldram wandte das Gesicht; seine Züge waren bleich wie das Antlitz eines Toten, doch gleich zwei Flammen brannten seine Augen; was aus ihnen leuchtete, war wie das lodernde Feuer im Blick des Kriegers, der den Ruf zur Schlacht vernommen. Der Bruder fühlte die flammende Kraft dieses Blickes, und scheu vor dem Pater zurücktretend, fragte er: „Herr, wohin gehst Du?“

„Wohin die Stimme Gottes ruft! Leget Ihr anderen die Hände in den Schoß und sehet zu, wie des Herrn Zorn die Berge stürzt ... ich aber folge seinem Ruf, denn meine Stunde kam!“ Weit ausholend mit dem Stabe, schritt er dahin, vom Sonnenglanz des zur Neige sich wendenden Tages umwoben.

Die Brüder standen schweigend, und einer suchte den Blick des anderen. Als Waldram unter den Bäumen verschwunden war, atmeten sie auf, und Bruder Wampo schüttelte den Kopf. „Er könnt’ einem Angst machen!“ Ein Schauer rüttelte ihn, und hastig bekreuzte er Gesicht und Brust; dann wieder lauschte er dem fernen Murren und dem summenden Echo.

Schweiker hatte die Hand über die Augen gedeckt und spähte in die Weite. „Schaü’ doch einmal ... ich weiß nicht, was ich seh’ da draußen. Ueber den Schönsee ziehen Nebel her ... aber sie schauen sich braun und grauslich an.“

Kaum hatte Bruder Wampo in die Ferne geblickt, da schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. „O Gottes Wunder! Zu Wazemanns Bannberg schau’ hinauf ... der Heidenkönig Eismann ist christlich worden und schlägt ein Kreuz!“

Auf den silberweißen, in heller Sonne glänzenden Schneegehängen des steil in die blauen Lüfte ragenden Bergriesen erschienen zwei dunkle, schräg sich kreuzende Striche. Noch ein Augenblick der Ruhe – und vor den entsetzten Sinnen der beiden Brüder vollzog sich ein Zerstörungswerk, gewaltig und furchtbar. Immer dunkler, in die Breite wachsend, erschienen auf dem hochliegenden Schneegehäng des König Eismann die quer durcheinander laufenden Rinnen. Während über ihnen der Gipfel des Berges noch sein unverändertes Bild bewahrte, überwälzte sich unterhalb dieser gleitenden Risse der Schnee auf weite Flächen, und aus dem zerfetzten weißen Kleide tauchte die nackte graue Brust des steinernen Riesen hervor. Zugleich auf allen Seiten begann ein Spalten und Auseinanderklaffen, ein Brechen und Stürzen des gewaltigen Felsenhauptes. Es schien, als wären die finsteren Mächte, welche Jahrtausende lang in diesem Gestein geschlummert, jählings zum Leben erwacht, als hätten sie sich verbündet zu einer unerhörten That. Mit rasender Schnelle stürmten sie dem Thal entgegen; nur wenige Augenblicke, und auf dem weiten Unterstock des fallenden Berges waren lange Thäler zugeschüttet und über ihnen neue Felsenhügel aufgeworfen, über welche hinweg die stürmende Todesjagd der ungeheuren Massen thalwärts ging. Die ganze Höhe war verwandelt in ein wirbelndes Chaos, und immer trüber verhüllte sich der rasende Wechsel all der schaudervollen Bilder; denn wie auf einer Brandstätt der aus Thür und Fensterhöhlen strömende Rauch zu dicker Schwade über dem Dach sich sammelt, so flossen die von den auseinanderfahrenden Trümmerströmen aufdampfenden Staubwirbel zu einer ungeheuren Wolke ineinander, deren züngelnde Ränder im Schein der Sonne mit Flammenröte sich färbten, während den finsteren Kern des rollenden Ungetüms ein fahles Leuchten durchlief wie von zuckenden Blitzen.

Nun kam es über den weiten Gadem zum Lokiwald gezogen – erst wie ein dumpfes Tönen nur, darauf ein Aechzen und ohrzerreißendes Knirschen, ein Knattern und Gerassel, das zu Krachen und Sausen wuchs, zu dröhnendem Donner. Unter dem Sturmwind, welcher einherflog über den Gadem, beugten sich alle Wälder,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_464.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)